Vordergründig betrachtet hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag damit begonnen, über eine kleine Wahlrechtsreform von 2020 zu verhandeln, die inzwischen weitgehend überholt ist. Dabei befassten sich die Karlsruher Richterinnen und Richter aber mit größeren Fragen – zunächst damit, wie genau und wie verständlich ein Gesetz überhaupt sein muss. Wie Berichterstatter Peter Müller formulierte, stellt sich diese Frage insbesondere, wenn es mit der Wahl um den Vorgang geht, “der im Zentrum der Demokratie steht”. (Az. 2 BvF 1/21)
Im Zentrum der Verhandlung am Dienstagvormittag standen diejenigen, an die sich Gesetze richten – hier die Wahlberechtigten und die Verwaltung, welche die Regelungen umsetzt. Einig waren sich alle, dass Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich verstehen müssen, was sie mit ihrer Stimme bewirken. Doch gestritten wurde darüber, ob schon das Gesetz selbst die Umrechnung von Stimmen in Mandate präzise und darüber hinaus verständlich formulieren muss oder ob das zu ungewollter Vereinfachung führen würde.
Die Neuregelung hatte der Bundestag mit den Stimmen der damals regierenden großen Koalition aus Union und SPD im Jahr 2020 beschlossen. Sie sollte den jahrelangen Streit darüber befrieden, wie das stetige Anwachsen des Parlaments zurückgedreht werden könnte. Dazu sahen Union und SPD unter anderem vor, dass bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.
Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten in den Bundestag bringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Die anderen Parteien bekommen dafür Ausgleichsmandate. Außerdem sollten weitere Überhangmandate in begrenztem Umfang mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden.
Die damaligen Oppositionsfraktionen von FDP, Linkspartei und Grüne hielten die Reform für verfassungswidrig. Ihre 216 Abgeordneten wandten sich an das Gericht. Unter anderem kritisierten sie, dass gegen die Chancengleichheit der Parteien und die Wahlrechtsgleichheit verstoßen werde. Darüber wollten die Richterinnen und Richter am Dienstagnachmittag verhandeln.
Zunächst ging es um einen weiteren Kritikpunkt – nämlich dass das Gesetz nicht genau und nicht klar genug sei. Es sei “sehr gehetzt” entstanden und “einfach technisch schlecht geregelt”, sagte die Bevollmächtigte der 216 Abgeordneten, Sophie Schönberger. Selbst wer sich Mühe gebe, könne die Regelungen und Berechnungen kaum nachvollziehen.
Der Bevollmächtigte der Bundesregierung, Heinrich Lang, verwies dagegen auf steuerrechtliche Regelungen, die sich “an Komplexität sicher nicht verstecken” müssten hinter dem Wahlrecht. Dabei könnten sich Bürgerinnen und Bürger sogar strafbar machen, wenn sie Steuergesetze nicht befolgten.
Im vergangenen Monat hatte der Bundestag mit den Stimmen der Ampelkoalition bereits ein neues Wahlrecht beschlossen. Die 216 Abgeordneten, die sich an das Gericht gewandt hatten, wollten das Verfahren in Karlsruhe darum ruhen lassen. Das lehnte das Gericht aber ab. Es bestehe ein öffentliches Interesse an der Verhandlung, erklärte es.
Gerichtsvizepräsidentin Doris König begründete diese Einschätzung damit, dass die aktuellen Bundestagsabgeordneten auf Grundlage des Wahlrechts von 2020 gewählt worden seien. Außerdem werde “eine mögliche Wiederholungswahl zum Bundestag in Berlin auf der Grundlage dieses Wahlrechts stattfinden müssen”, sagte sie in ihrer Einführung zur Verhandlung. Entscheiden will das Gericht am Dienstag noch nicht. Erfahrungsgemäß liegen zwischen Verhandlung und Urteilsverkündung in Karlsruhe einige Monate.