Die Geiseln aus Israel sollen frei kommen: Das ist die gute Nachricht. Doch der Durchbruch von Doha könnte sich als brandgefährlich entpuppen. Das lehrt die Geschichte.
Es war einmal ein US-Präsidentschaftswahlkampf. Die beiden Spitzenkandidaten – ein zurückhaltender Erdnussfarmer, der als Amtsinhaber für die Demokraten antrat, und ein glamouröser Western-Schauspieler aus den Reihen der Republikaner, der ihn herausforderte – lieferten sich ein sehr enges Rennen um den Einzug ins Weiße Haus.
Überschattet aber wurde die Rivalität der beiden ungleichen Männer durch ein Drama, das sich, von Washington betrachtet, am anderen Ende der Welt abspielte. Im Nahen Osten. Dort darbten seit Monaten Dutzende Unschuldige in Geiselhaft islamistischer Extremisten. Und ganz Amerika litt mit ihnen.
Wem es gelänge, die Geiseln zu befreien, der würde zum Volksheld werden und die Wahl am 8. November mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen. Das war den Kandidaten und ihren Wahlkampf-Managern klar.
Im Lager des Herausforderers ging die Angst um vor einer “October Surprise”. Einem überraschenden Durchbruch des Amtsinhabers in den Verhandlungen kurz vor der Wahl. Doch der blieb aus. Stattdessen scheiterte ein von ihm entsandtes Team aus Spezialeinheiten spektakulär bei dem Versuch, die Geiseln militärisch zu befreien.
Geschichte wiederholt sich nicht – oder doch?
Der Wahltag kam. Die Geiseln waren noch immer in Haft. Der Amtsinhaber verlor die Wahl, sein Herausforderer triumphierte. Und wie um den Sieg perfekt zu machen, gelang nur wenige Wochen später wundersam der Durchbruch, der bis zur Wahl trotz intensiver Anstrengung der US-Regierung nicht möglich gewesen war. Am 20. Januar, um kurz nach 12 Uhr Mittag Washingtoner Zeit, trat der neue Mann im Weißen Haus sein Amt an. Minuten später ging die Nachricht um die Welt: Die Geiseln sind frei.
Geschichte wiederholt sich nicht. Und doch: Die Vergangenheit ist immer auch das Vorspiel zur Gegenwart.
Darum drängt sich angesichts des Deals von Doha, auf den sich Israel und die Hamas am Mittwoch nach monatelangem Ringen geeinigt haben, der Vergleich zu dieser mehr als 40 Jahre alten Geschichte auf. Die Protagonisten damals: US-Präsident Jimmy Carter, ein Demokrat, und sein Herausforderer Ronald Reagan, ein Republikaner. Die Protagonisten heute: Joe Biden von den Demokraten und dessen Nemesis Donald Trump, dem sich Reagans Grand Old Party unterworfen hat.
444 Tage hatten die 52 US-Diplomaten als Geiseln in Iran verbracht, bis Reagan mit der Nachricht ihrer Befreiung seine Inauguration krönen konnte. 467 Tage vergingen zwischen dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 und dem nun geschlossenen Deal, der die 94 noch in den Händen der Terroristen verbliebenen Kinder, Frauen und Männer zu ihren Familien zurückbringen soll, tot oder lebendig. Und wie sein berühmter Vorgänger kann sich nun Donald Trump als der Mann brüsten, der den Durchbruch brachte. Zurecht. Dieser Deal verleiht dem Beginn seiner Amtszeit Pathos und den Glanz, nach denen Trump so dürstet.
Trump Effekt Gaza Deal Fabian Leonie 19:16
Bei aller Erleichterung über das jetzt hoffentlich absehbare Ende des Martyriums für die überlebenden Geiseln und den Trost für jene Angehörigen, die nun wenigstens ihre toten Angehörigen werden beerdigen können: Der Deal von Doha steckt voller Gefahren für die Zukunft des Nahen Ostens. Auch das lehrt die Geschichte.
Warum hat Israel den Deal so lange verzögert?
Damals wie heute, dafür mehren sich die Indizien, hat der Kampf ums Weiße Haus die Befreiung der Geiseln um Monate verzögert. Der Deal, auf den sich Israels Premier Benjamin Netanjahu und die Hamas jetzt eingelassen haben, lag bis ins Detail schon vor über einem halben Jahr auf dem Tisch. Zahlreiche Geiseln, die heute tot sind, waren damals noch am Leben. Warum also vergingen weitere acht Monate bis zum Durchbruch?
Geschichte wiederholt sich nicht. Und es gibt viele Unterschiede zwischen der Lage zu Beginn der 1980er Jahre und der heutigen. Doch die Erfahrung von damals nährt einen ungeheuerlichen Verdacht: dass es bei diesem Drama gar nicht in erster Linie um das Leben der Geiseln ging.
Derselbe Verdacht stand schon 1980/1981 im Raum und erhärtete sich Jahre später auf spektakuläre Weise: Mächtige Mittelsmänner um Reagans Wahlkampf-Manager William Casey hatten die Geisel-Verhandlungen des Carter-Teams systematisch hintertrieben und dem Regime im Iran signalisiert: Wenn ihr die Geiseln bis nach dem Wahltag festhaltet und Carters Siegchancen untergraben helft, dann winkt Euch unter Reagan die Belohnung. Genauso kam es: Die Reagan-Regierung verkaufte dem angeblichen Erzfeind Iran heimlich Waffen. Den Erlös verwendete die CIA, um rechte Rebellen in Nicaragua zu finanzieren, die in einem blutigen Guerilla-Krieg versuchten, die dortige linke Regierung zu stürzen.
Zentraler Strippenzieher der Aktion: William Casey, der inzwischen zum CIA-Chef aufgestiegen war. Mindestens einmal war Reagans nationaler Sicherheitsberater persönlich nach Teheran gereist. Im Gepäck: eine Bibel, ein Kuchen in Form eines Schlüssels und eine Ladung Panzer-Abwehr-Raketen. Als Iran-Contra-Affäre ging die Aktion, die 1987 aufflog, in Amerikas Annalen ein.
Und heute?
Ähnlich wie im Fall des jüngst verstorbenen Jimmy Carter muss man davon ausgehen, dass Joe Bidens Schicksal anders verlaufen wäre, wäre es ihm schon vergangenen Mai geglückt, die Geiseln zu befreien. Das heißt natürlich nicht, dass Trumps Leuten zu unterstellen ist, ähnlich wie Reagans Team die Verhandlungen aktiv hintertrieben zu haben. Aber die Frage drängt sich auf: Warum Netanjahu und seine rechtsextremen Alliierten zum identischen Abkommen damals Nein sagten und heute Ja?
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Die Antwort, das steht zu befürchten, dürfte weniger mit dem überlegenen Verhandlungsgeschick der Trump-Emissäre zu tun haben, die auf den letzten Metern mit am Tisch saßen. Und mehr damit: Die Extremisten in Nahost können sich von der nun beginnenden Trump-Präsidentschaft Zugeständnisse versprechen, zu denen ein Präsident Biden, auch nach einer erfolgreichen Wiederwahl, nicht bereit gewesen wäre.
Israels Finanzminister, Bezalel Smotrich, und der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, deren Drohungen mit dem Koalitionsbruch die Verhandlungen immer wieder torpediert hatten, haben zwei zentrale politische Ziele: die Annexion des besetzten Westjordanlands und die erneute Errichtung jüdischer Siedlungen im Gazastreifen. Joe Biden – genauso wie Kamala Harris – hätten sich beidem nach einem Wahlsieg entgegengestellt. Von Donald Trump ist das nicht zu erwarten. Schließlich war er es, der als US-Präsident Jerusalem als Israels Hauptstadt und die Annexion der syrischen Golanhöhen anerkannte. Auch im Kampf um seine Wiederwahl hat er große Nähe zu den Zielen der israelischen Rechten erkennen lassen. Großspenden aus deren Lager haben sein Weg zurück ins Weiße Haus entscheidend geebnet.
Auch Benjamin Netanjahu darf nach seinem Entgegenkommen an Trump noch vor dessen Amtsantritt auf eine sehr enge Zusammenarbeit mit der neuen US-Regierung hoffen. Das dürfte ihm helfen, trotz aller Vorwürfe für die Wehrlosigkeit Israels am 7. Oktober und trotz der laufenden Korruptions-Prozesse, an der Macht zu bleiben. Doch nicht nur das. Netanjahus großes politisches Ziel ist, als der Mann in die Geschichte einzugehen, der die Gefahr durch Irans Atomprogramm endgültig gebannt hat. Im Lauf des vergangenen Jahres haben Israels Luftwaffe und Geheimdienst auf seinen Befehl Irans wichtigsten Verbündeten, die Hisbollah im Libanon, entscheidend geschwächt – und Irans Flugabwehr bei einer Welle von Luftangriffen im Oktober großteils zerstört.
Trump hat Iran im Visier
Einem direkten Angriff Israels wäre Iran heute so wehrlos ausgeliefert wie noch nie. Mit Trump kehrt der Mann an die Macht zurück, der Iran im Visier hat wie kein US-Präsident vor ihm. Wird er grünes Licht für eine Attacke auf Teherans Atom-Anlagen geben, womöglich gar mit Beteiligung der US-Luftwaffe? Experten halten das schon in Trumps ersten Monaten an der Macht für möglich. Dass er seinen engen Berater, US-General a.D. Keith Kellogg, der sich eigentlich um einen Frieden für die Ukraine kümmern soll, vergangenes Wochenende zum Treffen einer paramilitärischen, iranischen Oppositionsgruppe in Paris schickte, lässt nichts Gutes hoffen.
Annexion des Westjordanlands, Wiederbesiedlung Gazas durch jüdische Siedler, Angriff auf Iran: Jede dieser Entwicklungen für sich würde eine neue Spirale der Gewalt im Nahen Osten nach sich ziehen. Zusammengenommen könnten sie einen perfekten Sturm entfachen. Dessen Ausläufer würden auch Europa treffen.
Der schmutzige Deal der Reagan-Leute jedenfalls sollte allen Beteiligten als mahnendes Beispiel dienen. Denn er befeuerte auf Jahre hinaus die Konflikte im Nahen Osten, allen voran den acht Jahre langen Krieg zwischen Iran und dem Irak. Und Geiselnahmen westlicher Bürger in der Region kamen danach erst recht in Mode. Die Extremisten hatten gelernt: Es lohnt sich.