Thomas Sünder arbeitete als DJ. Nach einem Hörsturz mit Ende 40 musste er sich neu orientieren – und fand einen Beruf, der ihn heute ganz erfüllt.
Es geschah gegen ein Uhr früh auf einer Weihnachtsparty in einem Festsaal im Herzen Hamburgs. Zweihundert Menschen feierten, tanzten und lachten vor den Lichtern eines gigantischen Weihnachtsbaums. Ich stand als DJ seit Stunden direkt neben meinen sechs Lautsprechern, über die ich einen Hit nach dem anderen auf die Tanzfläche im Erdgeschoss abfeuerte.
Plötzlich begann der Bildschirm meines Rechners, über den ich Musik auflegte, erst vor meinen Augen zu hüpfen, dann zu rotieren. Ein Drehschwindel-Anfall. Ich kannte das schon, drei Jahre zuvor hatte ich einen Hörsturz gehabt und hörte auf dem linken Ohr nur noch dreißig Prozent. Die Schwindelattacken kamen dann später dazu. Es war mein Berufsgeheimnis – schließlich lebte ich davon, anderen Menschen mit Musik Vergnügen zu bereiten.
Ich klammerte mich an meinem DJ-Pult fest
An dem Abend konnte ich nicht weg. The Show must go on. Ich klammerte mich am Rand meines DJ-Pults fest wie an der Reling eines Schiffs auf hoher See. Mir wurde übel. In meiner Verzweiflung griff ich nach meinem Smartphone, wählte die 112, schaffte es noch irgendwie, einen weiteren Song aufzulegen – und dann auf eine Playlist umzustellen.
Eine Viertelstunde später traten zwei Retter in Uniform hinter mich, stützten mich von beiden Seiten und geleiteten mich mit strammem Griff nach draußen. Mit Blaulicht brachten sie mich ins nächstgelegene Krankenhaus, wo ich über ein paar Tage Infusionen bekam.
Hinter dem Hörsturz verbarg sich eine chronische Krankheit
Dort hörte ich zum ersten Mal den Namen jener chronischen Krankheit, die mein Leben von Grund auf verändern sollte: Morbus Menière. Es ist eine Störung des Lymphflusses im Innenohr, deren Ursache bis heute nicht eindeutig geklärt ist und die mit drei charakteristischen Symptomen einhergeht: Schwindel, Schwerhörigkeit und Tinnitus, also Ohrgeräuschen. Das Schlimmste sind die Schwindelattacken. Sie konnten mich überall erwischen, auf der Treppe, beim Einkaufen, beim Fahrradfahren. Ich entwickelte eine große Angst vor dem Alltag, traute mich kaum aus der Wohnung. Diese Angst wieder loszuwerden, hat mich Jahre gekostet.
Nach der Diagnose darf man zwei Jahre lang nicht mehr Auto fahren. Damit hatte sich mein Beruf als mobiler DJ erledigt. Ich habe sehr schnell mein Equipment und meinen Transporter verkauft, um an Geld zu kommen, und habe dann überlegt, wie es weitergehen könnte.
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Aus dieser Situation gerettet hat mich die Idee, ein Buch über das Hören zu schreiben. Ich wollte genau verstehen, was im Ohr und was im Kopf da passiert. Ein wirklich grundlegendes Buch, das alle Fragen dazu beantwortet, hätte ich mir als Betroffener gewünscht, aber das gab es nicht. Da ich schon zwei Sachbücher geschrieben hatte, war ich gut vernetzt und konnte einen Verlag für diese Idee begeistern. Ich bekam eine Anzahlung, die mir den Lebensunterhalt erst mal gesichert hat. Zwei Jahre arbeitete ich an dem Buch. Ich war viel unterwegs in Forschungslaboren, auf Kongressen, auf Messen und hatte das Glück, auch führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Akustik kennenzulernen.
So ergab eines das andere. Als das Buch erschienen war, meldete sich ein Unternehmen bei mir, das Hörgeräte übers Internet verkauft. Man wollte, dass ich als Texter für sie arbeitete, was ich dann auch tat. Während dieser Zeit reifte die Entscheidung, selbst Hörakustiker zu werden. Ich begann also in einem Hörgerätegeschäft zu arbeiten. Der Weg war kürzer als üblich – mein Hochschulstudium, mindestens zwei Jahre Arbeitserfahrung in der Akustikbranche und alle nötigen Kurse konnte ich nachweisen und durfte mich deshalb ohne Gesellenprüfung direkt zur Meisterprüfung anmelden. Die bestand ich im ersten Anlauf.
Heute habe ich wieder Berührung zur Musikbranche
Hörakustiker ist ein wunderschöner und vielseitiger Beruf, den ich allen empfehlen kann, die sich im Alter von vierzig oder sogar über fünfzig noch umorientieren wollen. Man hat viel mit Menschen zu tun und braucht ein feines psychologisches Gespür für ihre Wünsche und Befindlichkeiten. Daneben fasziniert mich die technische und handwerkliche Seite meiner Tätigkeit. Der Beruf ist zudem zukunftssicher, Hörakustiker werden in unserer alternden Gesellschaft überall dringend gesucht.
Was kaum einer weiß: Akustiker beraten auch Bandmusiker, die ein sogenanntes “In-Ear-Monitoring” wollen, sozusagen Hörgeräte für ihre Proben und Bühnenauftritte, über die sie den Sound der Bandkollegen abgemischt hören können und die gleichzeitig als Gehörschutz dienen.
Damit schließt sich für mich auch ein Kreis. Zwar kann ich durch meinen Hörschaden selbst nicht mehr Jazzgitarre spielen, als DJ auftreten oder elektronische Musik abmischen, was früher meine Leidenschaften waren. Aber so habe ich wenigstens noch manchmal Berührung zur Musikbranche.