Kendrick Lamar hat überraschend ein neues Album veröffentlicht. Der Comedian Tahsim Durgun ist Lamar-Fanboy. Er hat sich “GNX” angehört und ist – gegen seinen Willen – begeistert.
2024 war nicht nur das Jahr der bitteren Entlassung von Ministern oder des schamlosen Wahlkampfs in den USA. 2024 war auch das Jahr der schillernden Fankultur. Von K-Pop bis unaufhaltsamem Taylor Swift-Wahn war alles dabei – letzteren konnte ich nie nachvollziehen. Warum wollen sich Fans stolz als “Swifties” betiteln, also freiwillig wie ein elektrisch statisches Staubwischtuch klingen? Kam mir schon immer suspekt vor. Aber warum rege ich mich auf? Das ist doch das Gute an der Fankultur: Jeder kann herausziehen, was er feiert, und ignorieren, was ihm nicht passt. Ich selbst habe nie einem Fankult angehört. Bis zum Abend des 22. November 2024.
Kendrick Lamar gewann 17 Grammys und den Pulitzer-Preis
Es ist 19 Uhr. Ich sehe, dass mein Handy explodiert. Auf meinem Bildschirm ploppt alles auf: WhatsApp, Instagram, TikTok – ich werde in Kommentaren erwähnt, in Storys getaggt und mit Nachrichten bombardiert. Ich denke: Treibt ein neuer Dubai-Schokoladen-Trend sein Unwesen? Aber nein, the one and only Kendrick Lamar a.k.a Kung Fu Kenny hat ein neues Album veröffentlicht. Einfach so, ohne Vorankündigung.
Es ist sein sechstes Studioalbum, zwölf Tracks. Jeder Versuch, möglichst unbekümmert und erwachsen an diese frohe Botschaft ranzugehen, scheitert. Das Internet schreit auf – und ich mache mit. Ich bin mittendrin! Als erstes: Spotify checken, um sicherzugehen, ob es wirklich dieses besagte Album namens “GNX” gibt? Die Musikindustrie wird schließlich auch nicht von Fake News verschont. Okay. Es ist wirklich wahr. Ehe ich auch nur eine Note gehört oder mir die Songtitel angesehen habe, ehe ich nur irgendwas darüber weiß, poste ich eine Instagram Story. Alles, was zählt, ist: ein Teil der Botschaft sein, die gerade das Internet überrollt. Ein Teil des Fankults sein.
Kendrick Lamar vs. Drake – der größte Rap-Streit seit Jahren
Nach dem ersten Schock dann aber: Album anhören, mit größtmöglicher Neutralität. Ja, Lamar ist krass, all seine letzten Alben waren Meisterwerke. Kendrick Lamar hat sogar den Pulitzer-Preis gewonnen! Auch sein diesjähriges kulturelles Reset hat eingeschlagen: Mit dem Battle-Song “Not Like Us” hat er dem Weltstar Drake bewiesen, wer der wahre King of Hip-Hop ist. Aber Künstler können sich verändern, denke ich. Auch ein Kendrick Lamar kann schlechter werden.
Deswegen will ich vom schlechtesten ausgehen. Lamar kann nicht immer gut sein, da bin ich mir sicher. Mit 100% Akku in meinen Kopfhörern und einem stummgeschalteten Handy mache ich mich auf den Weg. Raus in die Natur, um das Album zu hören: komplett abgeschottet vom Internet-Hype, zu dem ich gerade noch selbst beigetragen hatte.
“Ich wollte es hassen”
Ich drücke auf Play und denke mir: Es ist einfach nur Musik, Tahsim. Ein ganz normales Album. Vielleicht werde ich es sogar hassen? Der erste Track heißt “wacced out murals”. Ich höre nicht Lamar, sondern die kräftige Stimme einer Dame, die mir auf Spanisch opernähnliche Zeilen ins Ohr singt. Lamar kommt hinzu, mit gediegener, ruhiger Stimme. Der Track baut sich auf. Er fesselt mich, weil Lamar, der Beat, einfach alles schneller wird. Ich denke mir: Ich wollte es hassen, aber es ist verdammt nochmal gut.
Kendrick Lamar in Los Angeles, 2018
© Richard Stowell / AP Images
Ich laufe weiter. Und auch Kendrick macht keinen Halt. Tracks wie “squabble up” oder “man in the garden”, alle Songs sind gelungen, nie ist einer langweilig. Sehnlichst suche ich nach einer Schwachstelle, nach einem Song, den ich mal ungeniert überspringen kann, aber finde keinen. Ich will immer nur weiter hören.
“Ich brauche keine KI für Kultur – ich bin die Kultur”
Aber “reincarnated” übertrifft dann alles. Ein Kendrick Lamar, wie ich ihn noch nie gehört habe. Dass Lamar ein Stimmenakrobat ist, dass er in seiner Diskografie mit mehreren Versionen seiner selbst glänzt, wissen seine Fans. Aber seine “reincaranated”-Version macht neue Welten auf. Mit einer leicht kratzigen und wütenden Stimme führt er durch einen nostalgischen Klavier-Beat. Es fühlt sich an, als würde man einen alten und längst verschollenen Track von Tupac Shakur hören. So perfekt zeichnet Lamar seinen Stil nach. Außerdem schleicht sich hier ein weiterer Seitenhieb gegen Drake ein, der sich im diesjährigen Beef mit Lamar an KI-generierten Tupac-Vocals bedient hatte. Kendrick Lamar zeigt: Ich brauche keine KI für Kultur – ich bin die Kultur.
Kendrick Lamar „Mr. Morale & the Big Steppers“
Der Song fühlt sich zwar wie eine nostalgische Hip-Hop-Hommage an, bietet aber auch einen neuen Popcharakter. Das ist wohl dem Popproduzenten Jack Antonoff zu verdanken, der am Album mitgewirkt hat. Antonoff ist bekannt für seine Grammy-prämierten Produktionen für Taylor Swift, ausgerechnet die Dame, deren Kult ich zu Beginn noch infrage gestellt habe – welch eine Ironie, dass auch mein Lieblingsartist mit dem gleichen Produzenten arbeitet.
Der krönende Abschluss des Tracks ist aber der Dialog, den Lamar einbettet. Er arbeitet mit zwei verschiedenen Tonlagen seiner Stimme. Eine soll Gott symbolisieren, der darauf plädiert, dass Lamar demütiger sein solle. Der Track war schon perfekt, aber dieser Dialog ist der Höhepunkt. Er beeindruckt mich so sehr, dass ich nicht direkt weiterhören kann. Ich muss das Lied wiederholen. Mehrmals.
“Es ist das Album des Jahres”
Seit dem Überraschungsrelease ist das Wochenende vergangen und das “GNX”-Album lief in jeder freien Minute. Ich habe noch lange nicht alle Territorien dieser neuen Lamar-Welten entdeckt, die er gezeichnet hat. Lamars Musik ist zu vielschichtig, um sie sofort zu verstehen, zu reich, um sie in Gänze zu fassen.
Für mich steht aber eines fest: Es ist das Album des Jahres – das Werk des Jahres. Ich hätte es gerne gehasst, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass auch ich ein Fanboy bin. Aber es ist einfach grandios. In technischer Weise überzeugt es mich. Aber noch viel wichtiger: Dieses Werk hat mich so viel fühlen lassen wie lange nichts anderes mehr. Keine Serie, kein Film, kein Buch haben das geschafft. Dieses Album hat Aufregung, Spannung und Freude durch den bloßen Release entfacht. Es hat bewiesen, dass die Album-Kultur nicht aussterben darf. Und die Fankultur erst recht nicht. Jetzt bin ich ja Teil davon.