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Nations League vor Ort: Was das wahre Verdienst von Julian Nagelsmann ist

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Das 7:0 gegen Bosnien-Herzegowina zeigt, dass Julian Nagelsmann es geschafft hat, die Nationalmannschaft wieder zu einem Sehnsuchtsort zu machen.

Es sprach Sergej Barbarez, aber was er da sagte eine halbe Stunde vor Mitternacht im Freiburger Europapark-Stadion, war der Text von Julian Nagelsmann. “Ich bin Fan dieser Mannschaft. Ich mag, was sie machen”, sagte Barbarez, der Trainer von Bosnien-Herzegowina. “Sie sind eine der besten Mannschaften der Welt.”

Das Lob galt dem deutschen Nationalteam, gegen das Barbarez’ Bosnier gerade 0:7 verloren hatten. Ein Kompliment aus berufenem Munde, denn Barbarez kennt die Bundesliga bestens, er selbst spielte ab Mitte der 90-er zwölf Jahre für Vereine wie den Hamburger SV, Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen.

Als Barbarez das Podium verlassen hatte, trat Julian Nagelsmann auf. “Ich mag, was wir tun”, sagte er im Duktus seines Vorredners, um dann festzustellen, dass seine Mannschaft “ein Stück näher” an die Weltspitze gerückt sei. 

Es kommt selten vor, dass sich Heim- und Gästecoach so einig sind in der Analyse, aber dieser Samstagabend war so grandios für den einen Trainer verlaufen, dass sich der andere sich nur verbeugen konnte. 

DFB-Team noch immer im EM-Modus

Das 7:0 in der Nations League-Partie verdichtete nochmal all das, was das DFB-Team zuletzt ausgezeichnet hatte – es war eine Art Jahresrückblick, komprimiert in 90 Minuten. Die Deutschen spielten, als sei die EM nie abgepfiffen worden, als gäbe es doch noch eine Chance, ins Halbfinale einzuziehen, wenn man diese Bosnier nur hoch genug schlägt. 

Vorne wirbelten Florian Wirtz, Jamal Musiala und Kai Havertz, bloß dass sie nicht mehr von Toni Kroos bedient wurden, sondern von Robert Andrich und Pascal Groß. Schon nach zwei Minuten stand es 1:0 durch einen Kopfball von Musiala. Damit war das Signal für den Abend gesetzt. Die Deutschen drückten und drängelten, und mit jedem Tor berauschten sich ein wenig mehr an sich selbst. Auch in der zweiten Halbzeit noch, als das Spiel längst entschieden war, blieb der Druck auf den bosnischen Torwart Nikola Vasilj hoch. Der allerdings weiß, was es heißt zu leiden. Er ist hauptberuflich Schlussmann des FC St. Pauli.  

Manchem Beobachter verrutschten nach dem klaren Erfolg die Relationen. “Unser geilstes Spiel seit dem 7:1”, titelte die Bild am Sonntag und spielte damit auf den Kantersieg gegen Brasilien im WM-Halbfinale 2014 an. Aber das war nicht Brasilien, das da im Freiburger Nebelwetter untergegangen war, das waren Bosnier, die einen schlichten Fußball boten, wie man ihn aus dem Mittelbau der zweiten Liga kennt.

Deutschland fürs Viertelfinale qualifiziert

Das Publikum war dennoch in Feierlaune. “Major Tom” wurde in einer Art Dauerschleife vom Stadion-DJ eingespielt, die Fans sangen und tranken sich mit Tannenzäpfle in eine Saumseligkeit, aus der sie sich nur ungern wecken ließen. Noch um Mitternacht waren die Bierbuden dicht belagert, gerade so, als könnte man mit dem Plastikbecher an den Lippen den EM-Sommer zurückholen. 

Doch das Länderspieljahr ist bald vorbei. Am Dienstag geht es noch gegen Ungarn, Deutschland reist nach Budapest, ist aber bereits als Gruppensieger fürs Viertelfinale der Nations League qualifiziert.

Damit neigt sich ein Jahr dem Ende zu, das für den DFB ein Jahr der Wiederauferstehung gewesen ist. Noch im November 2023 schien der deutsche Fußball in einem Wachkoma gefangen, 2:3 in Berlin gegen die Türkei und dann ein 0:2 gegen Ralf Rangnicks Österreicher in Wien – das wog schwerer als die Schmach von Cordoba. Der Boulevard, der den Bundestrainer zuvor stets Julian genannt hatte, ging auf Distanz und fragte besorgt: “Macht Nagelsmann uns die EM kaputt?”

Ein Tiefpunkt wird zum Wendepunkt

Dieser trübe November, das lässt heute sich im Rückblick feststellen, war der wichtigste Monat in der Geschichte des DFB seit dem WM-Sieg 2014. Er markierte einen Tiefpunkt, der zu einem Wendepunkt werden sollte. Wer Nagelsmann nur vier Monate später, im März 2024, beim Lehrgang in Frankfurt erlebte, der lernte einen neuen Trainer kennen. All das Verblasene, die Schlaumeiereien, das Supercoach-Gehabe – Nagelsmann hatte es abgelegt. 

Er stellte die Mannschaft taktisch und personell neu auf; die EM im Sommer glückte, auch wenn die Deutschen den angestrebten Halbfinaleinzug verpassten. Nagelsmanns größte Errungenschaft sind nicht die zehn Siege und drei Unentschieden (bei nur einer Niederlage) in 2024. Sein eigentliches Verdienst lässt sich mit keiner Statistik erfassen: Ihm ist es gelungen, die deutsche Nationalmannschaft wieder zu einem Sehnsuchtsort zu machen.  

Nagelsmann selbst stellte in der vergangenen Woche erstaunt fest, wer alles seiner Einladung zum Lehrgang gefolgt war. Es kamen sogar angeschlagene Spieler wie Stuttgarts Angelo Stiller, der es trotz muskulärer Probleme versuchte und später wieder abreisen musste. “Vor einem Jahr wäre das anders gewesen”, sagte Nagelsmann beim Lehrgangsstart in Frankfurt, “da hätten einige gesagt: Ich setze mal lieber aus und bleibe beim Verein.”

Julian Nagelsmann galt als Taktiknerd 

Noch ein Beispiel: Samstagabend in Freiburg, kurz vor Spielende muss Joshua Kimmich vom Platz, Verdacht auf Kapselverletzung. Aber der humpelnde Kimmich ruft Nagelsmann zu, dass er gegen Ungarn spielen wolle, “unbedingt!”.

Die Nationalmannschaft ist jetzt wieder das, was sie in den frühen und mittleren Jahren der Ära Löw war: Ein Ort, der den Einzelnen wachsen lässt, der ihn in manchen Momenten überlebensgroß macht (oder zumindest so fühlen lässt). Niklas Füllkrug sagte kürzlich, jede Nominierung fürs Nationalteam sei für ihn wie ein Titelgewinn. 

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Wann hatte es das gegeben in den vergangenen sechs Jahren, seit dem frühen Aus bei der WM 2018, dass so von der Nationalmannschaft geschwärmt wird? Dies ist schon jetzt Nagelsmanns Hinterlassenschaft: Er, der lange Zeit als Taktiknerd galt, hat die Mannschaft emotional neu aufgeladen. Und zwar weit über die EM hinaus. Ein Team auf ein Turnier einzuschwören, mag ein Leichtes sein, eine Kunst hingegen ist es, dafür zu sorgen, dass sich dieser Teamgeist in den Monaten danach nicht verflüchtigt. 

Im Anschluss an das Ungarn-Spiel am Dienstag geht es für die Nationalmannschaft in eine viermonatige Pause. Erst im März wird man sich wieder treffen, dann zu den Viertelfinals der Nations League. Ein junger Wettbewerb mit überschaubarem Renommee, aber Nagelsmann wäre nicht Nagelsmann, wenn er diese Spiele nicht intern zu einem WM-Finale hochjazzen würde – und ihm das alle glauben.

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