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Nahost: In die Politik gehen? Wer bitte soll sich das noch antun?

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Eine Nachbetrachtung zu Kevin Kühnert oder: Warum es nicht nur im Osten schwerer wird, sich zu engagieren und wir alle etwas mehr Langeweile wagen sollten.

Es war ein heißer Augusttag in Erfurt, über 30 Grad Celsius. Der Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands trug kurze Hosen, hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und nahm in unregelmäßigen Abständen einen großen Schluck aus einer Wasserflasche. 

Doch die Vorsorge half wenig. Kevin Kühnerts Kopf glänzte gefährlich rot in der Sonne, während er unermüdlich gegen den Extremismus der AfD und den Populismus des BSW agitierte. Schließlich rief er: “Wählen Sie lieber die Langeweile!” Er meinte seine Partei.

Ich hatte es mir am Rande des Platzes bequem gemacht, unter dem Sonnenschirm eines Cafés, und nippte an einer eisgekühlten Cola-Zero. Ich lauschte Kühnerts Werben und betrachtete den örtlichen Abgeordneten, der neben dem Generalsekretär stand. Der arme Mann wusste sehr genau, dass er mit seinem Listenplatz 11 niemals dem nächsten Thüringer Landtag angehören würde. Aber er transpirierte trotzdem tapfer für seine SPD.

Nahost Martin Debes

Zu diesem Zeitpunkt, es waren nur noch wenige Tage bis zur Landtagswahl, erschien es nicht einmal gewiss, dass die Partei überhaupt im Parlament verbleiben würde. So wie in Sachsen, wo gleichzeitig Wahlen anstanden, näherte sich die SPD in den Umfragen bedenklich der 5-Prozent-Todeszone, während AfD und BSW Seit’ an Seit’ in Richtung Mehrheit schritten.

Somit fühlte sich die Szene auf dem Erfurter Wenigemarkt an wie die Sterbebegleitung der ältesten Partei Deutschlands. Von den wenigen Menschen, die Kühnert in der Hitze zuhörten, war nicht klar, weshalb sie stehen geblieben waren. Seinetwegen? Oder doch eher wegen der Umsonst-Bratwürste auf dem Grill neben ihm?

In diesem Moment, im Schatten meines Sonnenschirms, bekam ich Respekt vor den Durchhalteparolen des Durchhaltepolitikers Kühnert, der bereits mehrere ähnliche Termine in Thüringen hinter sich hatte. Dass es ihm schon damals, vielleicht, gar nicht gut ging, war ihm nicht anzumerken. Er funktionierte, wie ein Spitzenpolitiker in einer Demokratie des 21. Jahrhunderts zu funktionieren hat, sieben Tage die Woche, zwölf bis 16 Stunden am Tag. 

Bis er nicht mehr funktionierte.

Kühnerts Karriereende mit 35

Nachdem die SPD es in Sachsen und Thüringen gerade noch einmal in die Landtage geschafft hatte und etwas später, in Brandenburg, die AfD knapp besiegt war, trat Kühnert zurück. Seine Karriere endete mit 35 Jahren. Aus gesundheitlichen Gründen, wie er sagte.

Ich kannte Kühnert nur von einigen öffentlichen Terminen und aus zwei, drei kurzen Interviews. Doch nachdem ich die Nachricht vom Rücktritt gelesen, den Neuigkeitswert verdaut und ja, auch das, ein paar überflüssige Spekulationen angestellt hatte, empfand ich etwas, das ich zunehmend empfinde, wenn Politiker schwer krank werden oder abrupt aufgeben. 

Es ist kein schlechtes Gewissen, dies wäre der falsche Begriff dafür, sondern eher das unwillkürliche Eingeständnis berufsbedingter Mitverantwortung. Denn auch ich trage durch ständige Anfragen, Berichte, Kommentierungen zu dem unerbittlichen 24-Stunden-Takt bei, der nicht zuletzt mich selbst und meinen Berufsstand belastet. Und ich präge das prekäre Außenbild des Politikbetriebs mit.

Nahost Kolumne 6 – 19.33

Natürlich, das stimmt, funktioniert dieser Betrieb oft genauso schmutzig und brutal, wie es die gängigen Stereotype besagen. Es geht dann vor allem um Ambitionen, Eitelkeiten und Einfluss. Aber mindestens ebenso oft geht es, und dies parallel, um den Anspruch, Probleme zu lösen und Dinge besser zu machen. 

Der Drang zur Macht und der Wille zur Gestaltung: Schon der Ökonom Joseph Schumpeter, selbst auch Politiker, wusste, dass das eine ohne das andere wenig wert ist, dass beides zusammengehört. Die Vorstellung, dass Politiker ausschließlich selbstlose Diener des Volkes sein sollen, ist nicht nur lebensfremd, sondern fatal.

Auch eine Ärztin will nicht nur Menschen heilen und ein Ingenieur nicht nur Maschinen entwerfen. Sie wollen ihren Unterhalt bestreiten, einen gewissen Status erreichen, ihr Selbstwertgefühl stärken und, sofern dies denn möglich sein sollte, dem eigenen Dasein einen Sinn verleihen.  

Es hat sich etwas in diesem Land verändert

Selbstverständlich treffe ich in der Politik auch Leute, die ihre Privilegien ausnutzen oder sich auf ihnen ausruhen. Aber ich sehe mehr Menschen, die versuchen, ihre Aufgabe zu erfüllen, sei es hauptberuflich oder ehrenamtlich, als Gemeinderat oder Kabinettsmitglied, als Parlamentarier oder Regierungschef, als Landrat oder Bundespräsident. 

Die meisten von ihnen arbeiten übrigens deutlich mehr als ich. Und sie tragen deutlich mehr Verantwortung, wobei sie zumeist nicht einmal wissen, was nach der nächsten Wahl mit ihnen geschieht. 

Ich will kein Mitleid streuen oder Journalistentränen tropfen lassen. Für das Privileg von Gestaltungsmacht war schon immer ein hoher Preis zu zahlen. Und in einer Demokratie, immerhin, beträgt dieser Preis wenigstens nicht die eigene Existenz. 

Oder? 

Es hat sich etwas in diesem Land verändert, qualitativ und quantitativ. Für diese Erkenntnis benötigt niemand das nächste Martin-Schulz-Interview. Der wachsende Arbeitsdruck führt ins Burnout. Die ständige Erreichbarkeit zerstört Familien. Die zunehmenden Attacken produzieren Angst. 

Morddrohungen sind inzwischen fast alltäglich geworden. Und immer häufiger wird die Gewalt real, psychisch wie physisch.

Das hat Folgen. Es geht nicht nur um Politikerinnen und Politiker, die aus Erschöpfung oder Frust zurücktreten. Es geht um jene, die das Geschäft krank macht oder die schleichend aufgeben. Und es geht um jene, die gar nicht erst antreten, die nie kandidieren werden, für den Stadtrat, das Parlament, den Parteivorstand.

Kolumne Nahost 7 8.22

Und wie sich das mit gesellschaftlichen Problemen in dieser Republik oft verhält, ist vor allem Ostdeutschland betroffen. Dort leben immer weniger und immer ältere Menschen, die bekanntlich, seit sie nicht mehr dazu genötigt werden, nur ungern in Parteien eintreten. Gleichzeitig ist dort die Politikverachtung größer und die Aggression höher.

Dafür gibt es Gründe und Erklärungen, die ich aber hier nicht wieder ausbreiten will. Zumal sie jenen, die sich trotzdem engagieren, herzlich wenig helfen.  

Doch es bleiben Fragen. Wer will im Osten noch unmögliche Koalitionen möglich machen, weil ein Land regiert werden muss; sich auf Marktplätzen beschimpfen lassen und ständige Neiddebatten führen? Wer will hier noch Politikerin oder Politiker werden? Wer will sich das noch antun, außer Extremisten, Populisten oder sonstigen Scharlatanen?

Ich habe darauf keine Antworten, nur einen vorsichtigen Antwortversuch. Vielleicht sollten wir alle, um Kevin Kühnerts Satz mit ein bisschen Willy Brandt aufzuhübschen: mehr Langeweile wagen.

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