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Meinung: Ein Wahlkampf wie eine Geisterbahnfahrt

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Die Kanzlerkandidaten geben vor der Bundestagswahl ein erschreckendes Bild ab, findet Capital-Chefredakteur Timo Pache. Beinahe gut, dass Donald Trump ab Montag neue Themen bringt.

Manchmal ist Wahlkampf wie Kirmes: Ein riesiges Gewusel, es dampft, blinkt und dröhnt an jeder Ecke. Alle paar Meter lockt schon die nächste Sensation, und von irgendwo schreit eine Stimme: „Wer hat noch nicht, wer will noch mal?“ Politik als Geisterbahnfahrt, so könnte man diese Woche ganz gut zusammenfassen.  

Den Auftakt machte der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck, der es für eine gute Idee hielt, an einem Sonntagabend zum Wochenendausklang Millionen Sparern und Aktienanlegern einen Schreck einzujagen. Die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen ließen sich leicht aufbessern, erklärte Habeck, indem man, wie er sich das vorstelle, künftig auch auf Kapitalerträge Sozialbeiträge erhebe – schließlich würden die ja auch noch geringer besteuert als Arbeitseinkommen.  

Zack, da war sie, die glitschige Hand aus der Geisterbahn, die einem bei rumpeliger Fahrt von hinten über den Kopf streicht.  

Völlig unnötige Fehltritte

In jeder Hinsicht war das ein echter Habeck: Ohne große Not und ziemlich lässig zwei, drei Sätze dahingesagt, deren Sprengkraft er selbst offenbar überhaupt nicht überblickt hatte. Und als die Empörung losbrach, folgte die pampige Reaktion aus der Parteizentrale und auf allen Kanälen: Bah, eine gemeine Kampagne sei das von Medien und dem politischen Gegner (wie überraschend im Wahlkampf!). Die einzig sinnvolle Reaktion jedoch, die Aussagen des Kandidaten schnell zu präzisieren und durch ein Konzept zu unterfüttern, gab es nicht. Weil es eben dieses Konzept offensichtlich gar nicht gibt

Zuletzt sah es so aus, als könnten die Grünen zur Wahl tatsächlich die SPD überholen. Aber nach dieser Woche kann man die jüngsten Umfrageergebnisse erstmal wieder zur Seite legen.

Friedrich Merz bereitet sich auf Trump vor 9.30

Das Gleiche gilt für die Union und ihren Spitzenkandidaten Friedrich Merz. „Was Habeck kann, kann ich auch“, dachte der sich offenbar und erklärte kurz darauf bei einer Veranstaltung im Ruhrgebiet, er glaube nicht an einen raschen Umstieg der deutschen Stahlhersteller auf Wasserstoff. Stattdessen solle man lieber das bei der Produktion anfallende CO₂ einfangen und im Boden verpressen. Als ob diese Technologie, anders als der so schwer zu beschaffende Wasserstoff, übermorgen zur Verfügung stünde. Und als ob nicht gerade zig Stahlkonzerne und ihre Zulieferer genau in diesen Umstieg auf Wasserstoff immense Summen investieren – noch dazu unterstützt mit vielen Milliarden Steuergeld und im Jahr 2020 noch beschlossen von einer CDU-geführten Bundesregierung.   

Obgleich aus ganz unterschiedlichen Ecken kommend, hatten die Einwürfe von Habeck und Merz einiges gemeinsam: Sie sind beide nicht völlig abwegig und falsch – weder gibt es demnächst ausreichend günstigen Wasserstoff, um die ehrgeizigen Pläne zu erfüllen, noch sind die Finanzen der gesetzlichen Sozialsysteme wirklich gesichert. Auf beiden Feldern gibt es für die nächste Bundesregierung tatsächlich viel zu tun, am Beispiel des Wasserstoffs haben das Capital-Reporter just für die neueste Ausgabe in einer großen Geschichte analysiert. 

Trump wird Bundestagswahl beleben

Aber dieser etwas übereifrige Hang von Merz und Habeck, einfach mal ein paar Sätze fallenzulassen, ohne sich Gedanken über die praktische Umsetzung und die Konsequenzen für betroffene Unternehmen gemacht zu haben, über die Mitarbeiter und ihre Jobs, oder auch über Millionen ganz normale Sparer und Aktienanleger, ohne echte Konzepte und Alternativen parat zu haben, zeugt von einer Oberflächlichkeit und Lässigkeit, die für Regierungsämter eigentlich disqualifiziert. 

So gesehen kann man selbst hierzulande dem kommenden Montag beinah erwartungsfroh entgegensehen. Dann wird in Washington Donald Trump offiziell die Regierungsgeschäfte übernehmen. Endlich, möchte man hinzufügen, denn die letzten Wochen, in denen die USA quasi aus drei Hauptstädten regiert wurden – Washington (Biden), Mar-a-Lago (Trump) und Austin (Elon Musk) – waren doch etwas kakophon.  

Sitzt Trump erst mal an seinem Schreibtisch im Oval Office und unterschreibt gleich in den ersten Stunden seine angeblich schon vorbereiteten mehr als 100 Präsidentendekrete, dann wird wohl auch der Wahlkampf in Deutschland noch mal neu starten. Niemand weiß heute, was Trump mit seiner Macht anstellen wird, aber wir sollten mit allem rechnen. 

Schluss mit verstaubten Reformkonzepten

Die Zukunft der Nato und der Ukraine; neue Zölle auf alle möglichen Importe; deutsche Autos auf der Fifth Avenue in New York; die Windräder in der Nordsee – praktisch alles kann plötzlich sein Interesse oder seinen Zorn auf sich ziehen. Selbst das bislang geruhsame Leben auf Grönland. Ziemlich sicher kann man davon ausgehen, dass Trump die Welt und vor allem die Rolle der USA in dieser Welt grundlegend verändern wird.  

„Es sind Schlafwandler!“, rief aufgebracht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, als mein Kollege Nils Kreimeier und ich mit ihm für die aktuelle Ausgabe von Capital über die verworrene Lage in der Welt sprachen. Er meinte damit vor allem die früheren FDP-Minister der Ampelkoalition, die in seinen Augen in Verkennung ihrer historischen Aufgaben leichtfertig die Regierung aufgekündigt hätten. Man kann den Ausspruch aber inzwischen getrost auf alle Spitzenkandidaten im Wahlkampf ausweiten.

STERN PAID C+ Herfried Münckler IV

Statt verstaubte Reformkonzepte wie die Bürgerversicherung, die aus guten Gründen keine Regierung je angepackt hat, vom Dachboden zu zerren, und statt längst beschlossene Investitionen wieder infrage zu stellen, sollte es in den kommenden Wochen um die wirklichen Probleme dieses Landes gehen: die Sicherung des Friedens in Europa, womöglich künftig ohne die USA, und Wege raus aus der wirtschaftlichen Dauerstagnation in Deutschland.  

Diese zwei Aufgaben reichen für die letzten Wochen des Wahlkampfs vollkommen aus. Konzentration auf das, was wirklich wichtig ist, wäre für alle Beteiligten eine Wohltat – für die Kandidaten ebenso wie für uns Wählerinnen und Wähler.

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