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Atavismus: Das Rätsel der Wolfsmenschen: Wenn uralte Gene erwachen

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Der Körper voller Haare, ein Schwanz, sechs Brustwarzen: Mitunter kommen Menschen mit ungewöhnlichen Merkmalen auf die Welt. Sie gewähren einen Blick in unsere Stammesgeschichte.

London, 1857: In einem Wanderzirkus ertönt der liebliche Mezzosopran einer Mexikanerin. Begleitet von ihrer Gitarre sucht die junge Ausländerin das Publikum zu bezaubern. Doch die staunenden Besucher scharen sich nicht der Musik wegen um Julia Pastrana: Vielmehr versucht jeder einen Blick auf die Frau selbst zu erheischen. Denn mit Ausnahme der Fußsohlen und Handflächen bedeckt langes, dickes schwarzes Haar den Körper und sogar das Gesicht der Mexikanerin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann und Impresario Theodore Lent reist die “Affenfrau” Mitte des 19. Jahrhunderts über Jahrmärkte in ganz Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. 

Kurz nach der Geburt ihres ebenso über und über mit Haaren bedeckten Kindes stirbt Julia Pastrana 1860. Ihr von Skrupel wenig geplagter Gatte schöpft weiterhin Profit aus der “menschlichen Kuriosität”: Er lässt die Leiche seiner Frau und des ebenfalls verstorbenen Neugeborenen mumifizieren und stellt die beiden fortan in einem Glaskasten zur Schau. 

Die Frau ähnelt wegen ihrer Gene einem Affen
Auch als “Affenfrau” bezeichnet, war die Mexikanerin Julla Pastrana Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA eine Attraktion
© Ann Ronan Picture Library

Heute weiß man, dass Julia Pastranas ungewöhnliches Erscheinungsbild auf eine äußerst seltene Erbveranlagung zurückging – bezeichnet als Hypertrichose (von griechisch hypér für “über” und trichós für “des Haares”). Seit dem Mittelalter sind bloß einige Dutzend Fälle dieses übermäßigen Haarwuchses dokumentiert.  Womöglich dienten Menschen mit Hypertrichose in grauer Vorzeit gar als Stoff für Erzählungen über Werwölfe. Legenden von “Wolfsmenschen” jedenfalls finden sich in den Mythologien vieler Erdregionen und Kulturen. 

Die Ursache der starken Behaarung: Eine Veränderung im Erbgut betroffener Menschen bringt den von Genen gesteuerten Wachstumszyklus ihrer Haare durcheinander. Möglicherweise ist sogar ein urzeitliches Gen unserer tierischen behaarten Vorfahren Ursache des Erbleidens. Im Laufe der Stammesgeschichte des Homo sapiens hat der menschliche Organismus bestimmte Gene, deren Funktion nicht mehr benötigt wurde, stillgelegt. Sie sind jedoch nicht verschwunden, vielmehr ruhen sie – abgeschaltet – in unserem Genom. Die DNA enthält also nicht nur “aktuelles Wissen”, sondern auch genetische Erinnerungen. 

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Zuweilen werden Menschen mit einem kurzen Schwanz geboren

Durch Mutation wird nun bei manchen Betroffenen von Hypertrichose ein Jahrmillionen altes, schlummerndes Gen gewissermaßen wiedererweckt – und in einen aktiven Zustand versetzt. Dadurch tritt ein altes Merkmal unserer fernen Vorfahren zu Tage: die vollständige Körperbehaarung. 

Forschende kennen eine ganze Reihe ähnlicher Phänomene, die offenbar einen Blick auf die Gene der Ahnen zulassen. Solche Atavismen (von lateinisch atavus = Urahn) sind gleichsam Rückschläge in die Vergangenheit. So werden bisweilen Kinder mit Halsspalten geboren: Überbleibsel von Kiemenbögen – Relikte einer Zeit, als unsere frühen Ahnen noch im Wasser zu Hause waren. 

Zuweilen kommen Babys mit zusätzlichen Brustwarzen zur Welt. Die können ähnlich wie bei einigen Säugetieren – etwa Hunden und Schweinen – von den Achselhöhlen bis in die Leistengegend reichen. Und es gibt Menschen, deren verlängertes Steißbein einen kurzen Schwanz bildet. In der Urgeschichte der Primaten entwickelten sich vor rund 25 Millionen Jahre erstmals Affen ohne Schwanz. Aus ihnen gingen unter anderem die Menschenaffen hervor und letztlich auch unsere Vorfahren. 

Auch bei nichtmenschlichen Tieren treten gelegentlich körperliche Merkmale genetischer Ahnen auf. So wachsen Walen in seltenen Fällen kurze Hinterbeine – ein Hinweis auf ihre Abstammung von vierbeinigen Huftieren. Das gleiche Phänomen tritt gelegentlich bei Schlangen auf, die ja bekanntermaßen ihre Beine ebenfalls im Laufe der Evolution verloren haben. 

Vereinzelt sind Forschende auf Vögel mit Krallen an den Flügeln gestoßen: Sie erinnern gewissermaßen an die Schwingen des Urvogels Archaeopteryx. Auch Verhaltens-Atavismen sind der Wissenschaft bekannt: So bauen manche Sperlinge anstelle ihres typischen napfförmigen Nestes eine kugelige Behausung für ihre Brut: So wie es wohl ihre Ahnen einst taten.

Die wiedererweckten Gene können sich mit der Zeit auch verändern

Einem Tier hat sein Atavismus sogar zu besonderem Ruhm verholfen: Julius Caesars Reitpferd hatte an jedem Fuß mehrere Hufe. Vor rund 25 Millionen Jahren noch liefen die Vorfahren der heutigen Pferde auf drei Zehen. Im Laufe der Stammesgeschichte verstärkte sich der mittlere Zeh, während die seitlichen immer mehr verkümmerten. 

Atavistische Merkmale müssen jedoch nicht immer ein genaues Abbild der Vergangenheit wiedergeben. Denn auch stillgelegte Gene können sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte durch Mutationen wandeln. Im Falle einer Reaktivierung würden sie dann in veränderter Form zum Vorschein kommen. 

So war Julia Pastrana – im Gegensatz zu Menschenaffen wie Schimpanse oder Orang-Utan – auch im Gesicht vollständig behaart. Entweder hatte sich das wiedererweckte “Haar-Gen” in jener Zeit, als es abgeschaltet im Erbgut lag, verändert. Oder es stammte noch aus einer sehr frühen Epoche der menschlichen Stammesgeschichte. Einer Zeit, in der die Affen oder deren Vorfahren selbst im Gesicht behaart waren. 

 Disclaimer GEO bei stern+

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