ZEW-Ökonom Nicolas Ziebarth hält nichts von der Einführung eines Karenztages wie vom Allianz-Chef gefordert. Er findet nicht, dass der erste Krankheitstag auf Kosten der Arbeitnehmer gehen soll.
Herr Ziebarth, Allianz-Chef Oliver Bäte hat in einem Interview vorgeschlagen, dass Arbeitnehmer den ersten Krankheitstag selbst zahlen sollen – der sogenannte Karenztag. Damit sollen die vergleichsweise hohen Krankenstände gesenkt werden. Stimmt es, dass die Deutschen zu oft krank sind?
Das wäre zu einfach. In erster Linie ist die Datenlage sehr schlecht. In der Grundtendenz hat Herr Bäte aber recht: Die Deutschen sind oft krank, und das liegt auch an der großzügigen Lohnfortzahlung.
Sind die Deutschen häufiger krank als früher?
Das könnte man meinen, weil wir seit 2022 einen deutlichen Anstieg der Krankmeldungen erleben. Wir konnten aber zeigen, dass das in erster Linie auf die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zurückzuführen ist. Früher hat man einen gelben Zettel vom Arzt bekommen, den man per Post an seine Krankenkasse schicken musste. Viele haben das aber nicht gemacht. Jetzt funktioniert das alles automatisch. Wir haben also in erster Linie eine geringere Dunkelziffer. Und die Daten sind immer noch nicht gut.
Woran liegt das?
Wir haben national keine repräsentative Datenbasis, sondern nur die Daten einzelner Krankenkassen. Deshalb heißt es auch manchmal, dass jeder Deutsche 15 Tage pro Jahr krank ist – oder wie jetzt bei Herrn Bäte 20 Tage, wenn er auf Daten der Techniker Krankenkasse verweist. Vor allem ist es aber so, dass genau die Tage, die er meint, also die kurzen Krankmeldungen von ein oder zwei Tagen, untererfasst sind. Dafür brauchen Arbeitnehmer in der Regel kein ärztliches Attest. Das heißt: Für die Gruppe, die uns eigentlich interessiert – bei der wir zum Beispiel Faulheit vermuten – haben wir keine ausreichende Datenbasis. Wir wissen nicht, ob die Menschen fauler oder häufiger mal erkältet sind.
Mit welchem realen Anstieg der Krankmeldungen rechnen Sie?
Mit etwa 0,2 Prozentpunkten im Vergleich zu 2022. Das ist kaum nennenswert und vor allem auf die höhere Sensibilität nach Corona zurückzuführen. Viele wollen ihre Kollegen im Büro nicht anstecken und bleiben lieber mal einen Tag zu Hause.
Sind die Deutschen denn häufiger krank als andere Nationen?
Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit Arbeitsmarktstatistiken. Ich kenne in diesem Punkt aber keinen Indikator, der international vergleichbar ist. Das heißt also, man muss extrem vorsichtig sein mit diesem Vergleich. Nichtsdestotrotz ist in der Wissenschaft recht eindeutig belegt, dass Menschen sich häufiger krankmelden, je großzügiger ihr Lohnfortzahlungssystem ist. Und da Deutschland eines der großzügigsten Systeme hat, würde es mich sehr wundern, wenn es hier anders wäre. Sehr wahrscheinlich hat Deutschland mit die höchsten Fehlzeiten in der Welt.
IV Krankenstand Elke Ahlers 18.25
Wenn die Datenlage so schlecht ist – kann es nicht auch sein, dass die anderen Länder ihre Krankheitstage deutlich untererfassen. Wir im Vergleich also gar nicht so schlecht sind?
Das könnte sein. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur ziemlich sicher, dass großzügigere Lohnfortzahlung mit mehr Krankheitstagen einhergeht. Dass wir aber 20 und die anderen europäischen Länder nur 8 Krankentage pro Jahr haben, würde ich aber mal sehr stark anzweifeln. Dafür sind die Länder zu ähnlich. Anders ist das sicher, wenn man Deutschland und die USA vergleicht.
Warum?
Ich habe elf Jahre in den USA gelebt, und hier haben wir eben die notwendigen repräsentativen Daten. In den USA gibt es für den Großteil überhaupt keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Damit ist die Situation natürlich ganz anders als in Europa. Das zeigt sich dann auch in den Daten. Dort kommt man nur auf etwas mehr als drei Krankheitstage pro Jahr.
Was würden Sie also für Effekte durch einen Karenztag in Europa erwarten?
Das ist ein Vorstoß, der nicht gerade auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. In Ländern mit Karenztagen geht die Tendenz eher in unsere Richtung. Zum Beispiel in Spanien, England und Schweden. Vor allem, weil wir mittlerweile wissen, wie stark sich Infektionskrankheiten in Betrieben ausbreiten. Ein Karenztag würde den durchschnittlichen Arbeitnehmer 150 Euro brutto kosten. Das ist eine signifikante Lohnkürzung und würde sicher dazu führen, dass man sich lieber auf die Arbeit schleppt. Dort steckt man dann möglicherweise Kollegen an und senkt die gesamte Produktivität im Betrieb. Ein Unternehmen kann eigentlich kein Interesse daran haben, kranke Angestellte arbeiten zu lassen.
Und was halten sie vom viel diskutierten Vorschlag der Teilzeit-Krankschreibungen?
Das wäre ein deutlich besserer Weg, der in Skandinavien gut erprobt ist. Wenn man zum Beispiel mit einer leichten Infektionskrankheit aus dem Homeoffice arbeiten kann, sollte das möglich sein. Oder wenn jemand mit Rückenleiden immerhin halbtags arbeiten kann – auch dann sollten Ärzte das problemlos verschreiben können. In Schweden sind inzwischen 30 Prozent der Fehltage Halbtageskrankschreibung. Wenn wir nur 10 Prozent hinbekämen, würden der Wirtschaft 45 Millionen Arbeitstage zugeführt. Das wäre keine Wunderlösung, aber ein guter Anfang.
Welche Ideen hätten Sie sonst noch?
Der Schlüssel liegt in den Unternehmen. Dort muss man sich die Frage stellen, warum einzelne Berufsgruppen und Angestellte besonders häufig fehlen. Vor allem haben sie aber die Möglichkeit, ihren Mitarbeitern Anreize zur Arbeit zu bieten. Wer beispielsweise besonders selten krank ist, könnte einen Bonus bekommen. Das wäre schnell und unbürokratisch umsetzbar.