Bayern-Keeper Manuel Neuer wird nach seiner Roten Karte im DFB-Pokal abermals angezählt. Darüber, ob er nun abdanken sollte oder nicht, streiten unsere stern-Redakteure.
Pro: Manuel Neuer sollte Platz machen für die nächste Riege
Den erstaunlichsten Erklärungsversuch für seinen nächtlichen Ausflug aus dem eigenen Strafraum lieferte Manuel Neuer nach seiner roten Karte gegen Bayer Leverkusen im DFB-Pokal selbst: “Das Ding ist, dass ich nicht so richtig den Ball berühre. Er läuft in mich hinein und will das dankend annehmen. Aber nachdem ich den Ball nicht treffe, ist es für mich okay”, sagte er ins “Sky”-Mikrofon.
Mal außen vor gelassen, dass der 1,72 Meter große Leverkusener Jeremie Frimpong nicht allzu dankbar wirkte, als er vom 1,93 Meter großen Neuer umgerannt wurde, steckt die Quintessenz des aktuellen neuerschen Problems in seiner blumigen Formulierung: Wenn ein Torwart “nicht so richtig” den Ball berührt, ist das ein Problem. Und in der laufenden Bundesliga-Saison ist das häufiger so.
Den Bayern wegen dieser einen Situation ein Torwartproblem anzudichten, wäre unangebracht. Sie haben keines. Fakt ist aber: Statistisch gesehen gibt es in der Liga aktuell keinen schwächeren Torwart als Neuer. Seine vom “Kicker” berechnete Paradenquote liegt bei 57,9 Prozent. Das bedeutet, dass fast jeder zweite Schuss aufs Bayerntor im Netz landet.
Viele Keeper der Liga bewegen sich bei Werten um die 75 Prozent. Fairerweise muss man dazu aber sagen, dass diese Torhüter durch ihre schwächeren Vorderleute mehr Gelegenheiten bekommen, sich zu beweisen.
Neuer ist nicht mehr der gewohnte Rückhalt
Trotzdem: Es ist nicht nur diese eine Fehleinschätzung gegen Leverkusen, die zeigt, dass Manuel Neuer nicht mehr der Torwart ist, der er mal war. Wie sollte er auch? Er ist 38 Jahre alt, ein Vergleich mit seiner zehn Jahre jüngeren Version verbietet sich. Für den FC Bayern München braucht es aber einen Schlussmann, der konstant auf Topniveau spielen kann. Neuer ist das nicht mehr, zu schwankend ist er in seinen Auftritten geworden, zu viele Fehler gab es in den vergangenen Wochen und Monaten. Sinnbildlich war sein Patzer gegen Real Madrid in der vergangenen Champions-League-Saison, der ein Grund für das Münchner Ausscheiden war.
Es war ein Fehler, wie er jedem Torwart passieren kann. Doof sieht das immer aus. Doch Manuel Neuer ist nicht jeder Torwart. Er ist unbestritten einer der Besten der Geschichte. Noch vor ein paar Jahren wäre so ein Bock von ihm so überraschend gewesen wie eine Leverkusener Meisterschaft. Heute aber leben wir in anderen Fußball-Zeiten, ein Fehler von Neuer ist erwartbar geworden. Wenn es in die entscheidende Phase der Saison geht, ist das ein Risiko. Das sollte auch er selbst erkennen und Platz machen für die nächste Riege.
PAID Manuel Neuer Kommentar 20.00
In der Nationalmannschaft hatte er schon zu lange Marc-André Ter Stegen blockiert, in München haben sie den hervorragenden Yann Sommer ziehen lassen, um Neuer nach seiner Verletzung wieder ins Tor zu lassen. Die Bayern-Bosse sollten nun daraus lernen – auch, wenn das heißt, eine der letzten verbliebenen Identifikationsfiguren des Teams zu degradieren. Es geht um das Jetzt und nicht das Gestern.
Und es gibt Optionen: Mit Daniel Peretz steht im Klub schon der passende Ersatz parat, in der Liga spielt mit Alexander Nübel die sehr wahrscheinliche deutsche Nummer eins der Zukunft. Die Fußball- und Torwart-Welt dreht sich weiter. Das sollte auch für Manuel Neuer gelten.
Gideon Ötinger
Contra: Manuel Neuer ist unersetzbar
Ungestüm rannte Manuel Neuer den Leverkusener Jeremie Frimpong am Dienstagabend im DFB-Pokal-Achtelfinale über den Haufen. Für das als Notbremse gewertete Foul außerhalb des Strafraums sah er die Rote Karte. Die Aktion war wohl maßgeblich für das Ausscheiden der Bayern aus dem Pokal – das ist keine steile These. Die Diskussion, die nun um den Torhüter losgetreten wird, jedoch völlig überzogen.
Dass Neuer in seinem 867. Pflichtspiel zum ersten Mal einen Platzverweis erhielt, spielt Kritikern dabei in die Karten. Der 38-Jährige spiele nicht mehr auf dem Niveau wie früher. Er habe seinen Zenit erreicht. So lauten die Vorwürfe. Es ist nicht das erste Mal, dass Neuers “Herbst der Karriere” ausgerufen wird.
Gemessen an Fehlern
Torhüter zu sein ist ein undankbarer Job. Auf keiner anderen Position werden Spieler so sehr an ihren Fehlern gemessen. Auch ein Manuel Neuer bekommt das zu spüren – das letzte Mal nach dem Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid im Mai dieses Jahres. Neuer ließ spät im Spiel einen harmlosen Schuss von Vinícius Júnior durchrutschen, woraufhin Joselu nur noch einschieben musste.
Neuer Platzverweis, Zetterer nicht 06.52
Die folgende Niederlage und das Ausscheiden der Bayern wurden auch damals an Neuers Aktion festgemacht. Was im Nachgang keinen mehr interessierte: Zuvor hatte der Keeper zahlreiche Torchancen der Madrilenen glänzend pariert und die Münchner so überhaupt im Spiel gehalten. Das Schicksal eines Keepers. Die alte Leier.
Bei der EM verstummten die Kritiker schnell
Im letzten Jahr diskutieren Fans und Presse nach Neuers schwerem Skiunfall Ende 2022 sogar, ob der Routinier jemals wieder zwischen den Pfosten stehen wird. Damals war er schließlich schon 36 Jahre alt. Doch Neuer kämpfte sich nach dem komplizierten Beinbruch zurück und zeigte abermals, dass man ihn nie abschreiben sollte.
Vor der Heim-EM 2024 entschied sich Bundestrainer Nagelsmann dann trotz Kritik dafür, dass Neuer erster Torwart beim DFB bleibt. Ter-Stegen-Fans kochten. Nach den ersten Spielen waren sie aber wieder erstaunlich ruhig. Denn Neuer ließ sich nichts zuschulden kommen, war der gewohnt starke Rückhalt des Teams.
FS Manuel Neuer Nationalmannschaft 18.06
Manuel Neuer – der Unersetzbare
Klar, Neuer ist nicht mehr so spritzig wie mit 28 Jahren bei der WM 2014 in Brasilien. Als er die Gegner mit seinen waghalsigen Rettungsaktionen an der Mittellinie zur Weißglut brachte. In der Nationalmannschaft ist er bereits abgetreten – und auch beim FC Bayern dürfte das Karriereende nicht mehr allzu viele Jahre entfernt sein. Dennoch ist er beim Rekordmeister zurecht die unangefochtene Nummer eins.
Keiner hat das Torhüterspiel so revolutioniert. Keiner hat ein vergleichbares Standing in einem Team. Neuers Mitspieler vertrauen ihm blind, auch wenn er mal Fehler macht. Sie wissen: Das gehört zum Risiko seines einzigartigen Spielstils. Bei Manuel Neuer verhält es sich wie mit Rudi Völler: Es gibt nur einen. Und der ist unersetzbar.
Lennard Worobic