17 Treffen, mehr als 30 Telefonate. Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj arbeiten eng zusammen. Aber sie haben nicht nur beim Taurus große Differenzen.
Auf den ersten Blick sieht man dem Zentrum von Kiew den Krieg nicht an. Die Gebäude wirken unbeschädigt. Die ersten Geschäfte haben Weihnachts-Deko aufgehängt. Aber der Krieg ist da, an vielen Orten, in unterschiedlichen Formen, in aller Grausamkeit. Menschen tragen ihn in ihren Sorgen mit sich herum.
In der Pressekonferenz von Wolodymyr Selenskyj und Olaf Scholz sitzt eine ukrainische Journalistin, Mitarbeiterin einer Nachrichtenagentur, deren Mann seit Sommer 2023 an der Front kämpft. Wann immer er Internet hat, schickt er ihre eine Textnachricht, berichtet sie. Dann stockt die junge Frau. Wenn sie weiter von ihm erzähle, sagt sie, fange sie an zu weinen. Aber das gehöre sich doch nicht hier vor dem Präsidenten und dem Bundeskanzler.
Olaf Scholz nennt den Krieg “erbarmungslos” und “verbrecherisch”
Olaf Scholz ist einen Tag lang in der ukrainischen Hauptstadt unterwegs. Es ist sein zweiter Besuch seit dem russischen Überfall im Februar 2022. Es ist in erster Linie eine politische Reise. Scholz nennt den Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine oft “erbarmungslos” und “verbrecherisch”. Es geht um die Frage, ob es irgendeinen Weg gibt, diesen Konflikt in absehbarer Zeit doch zu beenden. Noch sieht es nicht so aus.
Scholz fährt nicht an die Front. Aber auch in Kiew ist zu erleben, was das eigentlich heißt, erbarmungslos. Was dieser Krieg anrichtet; was er an Tod und Elend geradezu ausspuckt, an jedem einzelnen von mittlerweile mehr als 1000 Tagen.
Der Krieg ist in einem Militärkrankenhaus, wo Scholz und Selenskyj Soldaten besuchen. Es sind junge Männer, die schwer verwundet zurückgekehrt sind von der Front. Glieder wurden ihnen weggerissen und mit ihnen ein Stück Zukunft. Kanzler und Präsident gehen von Zimmer zu Zimmer, fünf insgesamt. Olaf Scholz wird später sagen, dass er den Soldaten seine “tiefe Anerkennung ausgesprochen habe, für ihren Mut und ihre Tapferkeit”. Das sei ihm wichtig gewesen, so der Kanzler. Und was er gesehen habe, werde er “nicht vergessen”.
An einem Meer der Trauer stellt Scholz eine Kerze ab
Der Krieg ist am Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit, wo Scholz die Bilder getöteter Soldaten sieht, umgeben von Tausenden Fähnchen in den Farben der Ukraine. Der Kanzler steht vor diesem blau-gelben Meer der Trauer, neben ihm Selenskyj, beide haben eine Kerze abgestellt. Die Gesichter wie versteinert.
Aber der Krieg fliegt auch mit den Waffen, die Scholz und Selenskyj an einem geheimen Ort in Kiew besichtigen. Waffen, mit denen sich die Ukraine wehrt. Eine in Deutschland entwickelte Drohne zum Beispiel, die mit panzerbrechender Munition in ihre Ziele rast und sie zerstört. Man nennt sie auch Kamikaze-Drohne. 4000 solcher Geräte werden in den nächsten Monaten an die Ukraine geliefert. Stückpreis um die 30.000 Euro. Sie finden ihr Ziel, auch wenn der Feind den Funkverkehr stört. Auf einem Bildschirm der Herstellerfirma läuft eine Originalaufnahme, auf der zu sehen ist, wie ein russischer Schützenpanzer getroffen wird. Kurz vor dem Einschlag erkennt man die aufsitzenden Soldaten.
Scholz und Selenskyi: Tagestrip durch Kiew
Der ukrainische Präsident hat sich den ganzen Tag Zeit genommen, seinen Gast aus Deutschland zu begleiten. Es ist ein besonderer Gast, ein guter Freund, aber auch ein harter Knochen. Selenskyj hat mitgezählt, 17-mal haben sich die beiden mittlerweile persönlich getroffen, mehr als 30-mal telefoniert oder online miteinander gesprochen. Scholz und Selenskyj verbindet eine enge Beziehung, was nicht heißt, dass sie konfliktfrei wäre. Im Gegenteil.
Scholz wird nicht müde, auf die deutsche Hilfe zu verweisen, insgesamt 28 Milliarden Euro allein an militärischer Unterstützung. Ausrüstung im Wert von 650 Millionen Euro kündigt er bis Ende des Jahres an – eine kleine Mogelpackung, weil das Geld schon längst bewilligt ist. Aber er wird auch wortkarg und störrisch, wenn es um die Waffen geht, die er nicht liefern will. Und um die politische Unterstützung für einen Nato-Beitritt der Ukraine, den er nicht beschleunigen will.
Selenskyj auf der anderen Seite ist dankbar für die große Hilfe, die Deutschland geleistet hat, militärisch und finanziell. Er sagt, deutsche Abwehrwaffen hätten viele Menschenleben in der Ukraine gerettet. Aber er redet auch nicht drumherum, wenn es um Differenzen geht, um den Marschflugkörper Taurus, den er gerne hätte, aber nicht bekommt. Oder auch um Telefondiplomatie mit Wladimir Putin, die Scholz für nötig hält, Selenskyj aber für falsch. Nur die politische und wirtschaftliche Isolation schwäche den russischen Präsidenten, sagt Selenskyj. Wenn man einmal mit Putin telefoniere, dann folgten weitere Telefonate, andere Anrufer, und Russland profitiere von so einer Welle der Anerkennung. “Für die Ukraine kann da nichts herauskommen.”Taurus Scholz 05.58
Wie geht es weiter? Wie wird der neue US-Präsident Donald Trump versuchen, sein Versprechen zu halten, den Krieg binnen kürzester Zeit zu beenden? Olaf Scholz hat seit dessen Wahl einmal mit Trump telefoniert. Er sehe schon, sagt der Kanzler vorsichtig, “dass man darauf setzen kann, eine gemeinsame Politik zu entwickeln”. Dann fügt er noch vorsichtiger hinzu: “Jedenfalls hoffe ich das.” Mehrmals verspricht Scholz, er werde nicht zulassen, dass eine Entscheidung über die Zukunft der Ukraine über die Ukraine hinweg getroffen werde.
Wolodymir Selenskyj hat zuletzt einen Vorschlag gemacht, der als Entgegenkommen zu sehen ist. Er besteht für einen Waffenstillstand nicht mehr auf einem Nato-Beitritt, sondern nur noch darauf, dass der Westen den Schutz der von der Ukraine kontrollierten Gebiete garantiere. Der Rest sei dann Verhandlungssache. Als er gefragt wird, welche Zugeständnisse er von Russland erwarte, verliert Selenskyj kurz die Fassung. “Am besten wäre, Russland würde sich zum Teufel scheren.”
Die junge Journalistin hofft natürlich auch auf ein Ende des Krieges. Aber sie hat auch Angst davor. Sie sagt, es gebe praktisch keine ukrainische Familie, die nicht betroffen sei. Das sei ein kollektives Trauma, dessen Wirkung noch nicht absehbar sei. Wenn der Krieg vorbei ist, sagt sie, “wer hilft uns dann damit?”