Totalverweigerer, die uns allen auf der Tasche liegen – so wurden Bürgergeldempfänger zuletzt von Politikern dargestellt. Was ist dran am Vorurteil von Faulheit und Berechnung?
Der Bibelvers für diese Woche findet sich in Lukas Kapitel 6, Verse 20 und 21:
“Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden.”
Der US-amerikanische Unternehmer Mike Black hat sich etwas überlegt. Im Jahr 2020, als das Corona-Virus die Welt in seinen Fängen hält, will er zeigen, wie man trotz persönlicher Rückschläge und wirtschaftlicher Krisen wieder auf die Beine kommt. Wie man selbst aus Bankrott und Obdachlosigkeit heraus ein Unternehmen gründen und wirtschaftlichen Erfolg erzielen kann. Innerhalb von zwölf Monaten werde er, so erzählt er es in einem YouTube-Video, eine Million US-Dollar erwirtschaften. Als Obdachloser. Mit nichts anderem als einem Smartphone und den Klamotten, die er am Leibe trage.
Das britische Revolverblatt “The Daily Mail” hat einen launigen Artikel über dieses Unterfangen veröffentlicht. In einer Bildunterschrift heißt es: “Das Schwierigste an der Obdachlosigkeit ist für Black, dass er nicht weiß, wo er schlafen soll.” Darüber ein Bild von Mike Black auf einer Parkbank. “Black verzweifelt beim Betteln – auch bei der Suche nach Wasser.” Darüber ein Bild von Mike Black mit einem Plastikbecher in der Hand.
Der Titel des Artikels lautet: “Millionär, der sich freiwillig in Obdachlosigkeit und Bankrott begibt, um zu beweisen, dass er in zwölf Monaten eine Million US-Dollar verdienen kann, beendet sein bizarres Experiment vorzeitig wegen gesundheitlicher Probleme.”
War dann wohl doch nicht so einfach wie gedacht.
Es gibt dieses Bild über Obdachlose, Arme, Arbeitslose und chronisch Kranke. Dass sie faul seien. Und dumm. Dass sie wie die Made im Speck lebten und sich dabei von der arbeitenden Bevölkerung aushalten ließen. Dass sie arbeiten könnten, wenn sie nur wollten. So schwierig sei es nämlich gar nicht, Arbeit zu finden, der Armut zu entkommen und sich selbst und seinen Kindern eine Perspektive zu bieten. Stattdessen aber würde sich Arbeiten nicht lohnen, weil die Sozialhilfe zu hoch sei. Die “soziale Hängematte” sei zu gemütlich.
Wieso überhaupt arbeiten?
Mit hektischen Vergleichen zwischen Sozialhilfebeziehern und Mindestlohnempfängern soll dieses Urteil unterfüttert werden. “Warum noch arbeiten, wenn man auch Sozialhilfe beziehen kann?” heißt es in den rechten Blättern des deutschen Wutbürgertums. Dass in diesem Vergleich das Problem eher bei einem Mindestlohn liegt, der offensichtlich nicht ausreicht, um trotz Vollzeitstelle eine Familie zu ernähren, scheint seltsamerweise kaum jemandem aufzufallen. Stattdessen erscheinen Zeitungsartikel, Meinungsbeiträge, Talkshows und Interviews über faule und dumme Sozialhilfeempfänger.
Zehn Milliarden Euro. Das ist die Summe, die man beim Bürgergeld einsparen könne, heißt es seit Wochen und Monaten beinahe wortgleich von CDU-Parteichef Friedrich Merz, Generalsekretär Carsten Linnemann und dem parlamentarischen Geschäftsführer Thorsten Frei. Es wäre eine Kürzung um ein knappes Viertel des gesamten Bürgergeld-Budgets im Bundeshaushalt. Wie genau die diese zehn Milliarden Euro eingespart werden sollen, verraten die christdemokratischen Wirtschaftsweisen allerdings nicht. Auch nicht, wie hoch das neue Bürgergeld sein soll. Wie man die strengen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Menschenwürde und Existenzminimum sichern will, bleibt ebenfalls unbeantwortet. Eigentlich verraten die Unionsleute überhaupt nichts. Nur, dass sich Arbeit wieder mehr lohnen müsse. Und das wiederum geschieht offensichtlich nicht durch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder eine Erhöhung des Mindestlohns, sondern durch eine Kürzung der Sozialhilfe.
Bürgergeld: Das Problem mit den Zahlen
Als Carsten Linnemann einmal von diesem Wischiwaschi abweicht und von einer “sechsstelligen Zahl” von “Totalverweigerern” spricht, denen man die Leistungen komplett streichen werde, stellt die Bundesagentur für Arbeit umgehend klar, dass es keinerlei Daten zu diesen ominösen “Totalverweigerern” gebe und dass es zwar Leistungsminderungen wegen der “Weigerung zur Aufnahme einer Arbeit” gebe, die Zahl aber bei überschaubaren 13.838 Fällen liege. Es ist ein schönes Beispiel für das vermaledeite Problem mit konkreten Aussagen: Sie lassen sich überprüfen. Und das scheint man bei der Union vermeiden zu wollen.
Wer sich für Fakten interessiert, wird auf der Webseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales fündig. Mit Stichtag zum 1. August 2023 erhielten 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld, darunter 1,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Von den vier Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, standen 1,6 Millionen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie sich in einer Ausbildung oder einem Studium befanden, Kinder erzogen, Angehörige pflegten oder kurzfristig arbeitsunfähig waren. Von den wiederum verbliebenen 2,4 Millionen Bürgergeldempfängern waren 800.000 Menschen bereits in Arbeit, verdienten aber derart wenig, dass sie mit Sozialhilfe “aufstocken” mussten. Blieben also noch 1,6 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte übrig. Darunter 500.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge.
Das also sind die Menschen, denen man nun die letzten Pfennige herauspressen will. Kinder in Armut. Menschen, die Angehörige pflegen. Kriegsflüchtlinge. Chronisch Kranke. Arme Schweine in einer existenziellen Lebenskrise.
Nur zum Vergleich: Die dubiosen Maskendeals, die der ehemalige CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn zu verantworten hat, werden den Bund voraussichtlich 2,3 Milliarden Euro kosten. Die verkorkste Autobahnmaut des ehemaligen CSU-Verkehrsministers Andreas Scheuer wird voraussichtlich mit 243 Millionen Euro zu Buche schlagen. Alles das aber sind Peanuts im Vergleich zu den Steuerhinterziehungen durch CumEx und CumCum-Geschäfte. Durch ihnen entgehen dem Staat Steuereinnahmen in Höhe von insgesamt 38 Milliarden Euro. Oder, um es in die Logik der CDU zu übersetzen, die 3,8-fache Einsparung beim Bürgergeld.
Wohin das Geld wirklich fließt
Nahezu alle Vorurteile gegenüber Armen und Arbeitslosen sind elendig falsch. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die wissenschaftliche Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit, weist im Jahr 2010 nach, dass Hartz-IV-Empfänger keineswegs faul sind. Im Gegenteil. Sie tragen eine hohe Arbeitsmotivation und eine hohe Konzessionsbereitschaft in sich. Im Jahr 2024 bestätigt das IAB die Ergebnisse und zeigt an, dass Bürgergeldbezieher für eine potenzielle Arbeitsstelle häufig bereit sind, Belastungen am Arbeitsplatz, Arbeit unter dem eigenen fachlichen Können, geringes Einkommen und lange Arbeitswege in Kauf zu nehmen.
Die Bertelsmann-Stiftung weist im Jahr 2018 nach, dass direkte Geldzahlungen an Familien den Kindern direkt zugutekommen. Eine Erhöhung des Kindergeldes um 100 Euro steigert die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind eine Betreuung besucht, um fünf Prozentpunkte, den Besuch einer Sportstätte um acht Prozentpunkte, die musikalische Früherziehung um sieben Prozentpunkte. Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2024 kommt zu demselben Ergebnis. Mütter, die unbürokratisch mehr Geld erhalten, nutzten es, um Bücher, Spielzeug und Kleidung für ihre Kinder zu kaufen und an Mutter-Kind-Aktivitäten teilzunehmen.
Gegen Armut hilft Geld
Arme Menschen sind nicht arm, weil sie faul sind, sondern, weil ihnen Ressourcen, Infrastruktur und Möglichkeiten fehlen. Gegen Armut hilft, das mag nun manche überraschen, Geld. Gegen Ungerechtigkeit im Bildungssystem helfen Geld und eine bessere Ausbildung der Lehrkräfte. Gegen Arbeitslosigkeit helfen Geld und robuste staatliche Strukturen wie eine flächendeckende Kinderbetreuung. Gegen soziale Ausgrenzung hilft, Menschen in Armut als Menschen und nicht als Sozialschmarotzer darzustellen. Aber allein daran scheitern schon die meisten in Politik und Medienlandschaft.
Dass Mike Black sein Experiment als Obdachloser wegen Krankheit abbrechen muss, offenbart eine tiefe Wahrheit: Armut macht krank. Gegen Armut hilft nicht Druck, sondern Zuwendung und Hilfe. Zuletzt noch einmal die Forscherinnen vom IAB, der Bundesagentur für Arbeit: “Will man das in vielen Fällen hohe Ziel einer Erwerbsintegration – wie es das SGB II vorsieht – nicht aufgeben, legen die Befunde dieses Kurzberichts nahe, dass die Lösung für die ganz überwiegende Zahl der Betroffenen nicht in einer noch ‘härteren Gangart’ gegenüber den überwiegend motivierten Grundsicherungsempfängern bestehen kann.”
Nicht die Arbeitslosen sind faul und dumm, sondern eine Politik, die arme Menschen aus purem Kalkül als Fußabtreter benutzt.