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Mangelernährung : Schlechtes Krankenhausessen: “55.000 Todesfälle ließen sich vermeiden”

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Ein gesundes Krankenhausessen ist wichtig, um in der Klinik zu genesen. Doch in deutschen Krankenhäusern ist die Qualität der Ernährung laut neuen Zahlen gefährlich schlecht. 

Herr Professor Pirlich, Krankenhausessen hat keinen guten Ruf. Es gilt als unansehnlich, ungesund, und ungenießbar. Trotzdem ist das für viele nur ein Luxusproblem. Man kommt schließlich nicht für das Essen in die Klinik, heißt es immer wieder.
Dabei ist eine schlechte Versorgung mit Nährstoffen und Energie ein gigantisches medizinisches Problem, welches das Überleben von Patienten gefährdet. 

Wie meinen Sie das? 
Ungefähr 20 bis 30 Prozent aller Patienten, die in Deutschland ins Krankenhaus aufgenommen werden, zeigen schon Zeichen einer Mangelernährung. Sie essen zu wenig, es fehlt ihnen an Energie, Proteinen und Mikronährstoffen. Eine unzureichende Versorgung im Krankenhaus verschlimmert ihren Zustand noch. Bei einigen entsteht der Mangel auch erst in der Klinik. Trotzdem lassen wir diese vulnerablen Gruppen meist unterversorgt.

Zur Person

Patienten und Patientinnen kommen etwa wegen Knochenbrüchen, Infektionen oder Krebserkrankungen, die versorgt werden müssen, ins Krankenhaus. Was macht da eine zusätzliche Mangelernährung für einen Unterschied?
Bei nicht wenigen entscheidet sie über Leben und Tod. Mangelernährte Patienten und Patientinnen haben eine doppelt bis dreimal so hohe Sterblichkeit. Erfahrungsgemäß sterben knapp zwei bis drei Prozent der Krankenhauspatienten, unter den Mangelernährten sind es mehr als sechs Prozent. Denn eine Mangelernährung schwächt den Körper massiv. Diese Menschen werden anfälliger für Infektionen, das Immunsystem arbeitet nur noch eingeschränkt. Auch die Wundheilung ist schlechter. Deswegen brauchen wir in Krankenhäusern endlich eine angemessene Ernährungstherapie genauso wie ein verpflichtendes Screening auf Mangelernährung. Das fordere nicht nur ich, sondern 25 Fachgesellschaften, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin.

Unter Mangelernährten stellt man sich abgemagerte Menschen vor. So etwas muss doch auffallen. Braucht es da überhaupt ein Screening? 
Sie vergessen, dass wir in einer überernährten Gesellschaft leben. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung hat einen nach den WHO-Kriterien zu hohen Body-Mass-Index. Wenn diese Menschen durch eine Krankheit Gewicht verlieren, sehen sie deswegen nicht sofort auffällig ausgezehrt aus. Damit ein Mangel auffällt, muss man etwas genauer hinschauen.

Wie sieht so etwas aus?
Das Screening mit einem standardisierten Instrument ist simpel und dauert nicht länger als eine Minute. Es geht nur um vier Fragen. Hat der Patient oder die Patientin in den vergangenen sieben Tagen weniger gegessen? Hat er oder sie in den letzten drei Monaten Gewicht verloren? Liegt der Body-Mass-Index unter 20,5. Und: Besteht eine gravierende Erkrankung? Wenn man auch nur eine dieser vier Fragen mit “Ja” beantwortet, besteht der Verdacht auf eine Mangelernährung. Dann kommt eine Ernährungsfachkraft zum Patienten. Sie versucht, die Schwere der Mangelernährung einzuordnen, und zu überlegen: Muss man die Nahrung anreichern? Die Portionen ändern? Oder braucht es vielleicht eine Form der künstlichen Ernährung, weil man den Energiebedarf sonst nicht gedeckt bekommt? 

Wie kommt es überhaupt bei so vielen Menschen zu einem Mangel? 
Chronische und gravierende Erkrankungen führen oft zu einem verminderten Appetit, beeinträchtigen den Geschmackssinn oder erhöhen den Nährstoffbedarf. Bei einigen Patienten gibt es psychische oder auch Verdauungsprobleme. Anderen Patienten ist aufgrund der Medikamente, die sie nehmen müssen, ständig übel, oder sie haben Schmerzen beim Schlucken oder Kauen und essen deswegen kaum etwas. Häufig gibt es bei einem Patienten mehr als nur eine Ursache für die Mangelernährung.

Jeder hat schon einmal erlebt, wie das Hungergefühl schwindet, wenn man mit Fieber im Bett liegt. Ist es nicht verständlich, wenn man während einer Krankheit weniger isst? 
Doch, und wenn Sie ansonsten gesund sind, können Sie es sich leisten, ein paar Tage nichts zu essen. Das ist eine natürliche Reaktion, die wir auch im Tierreich beobachten. Allerdings sterben auch viele Tiere, die über längere Zeit aufhören zu essen. Wir haben uns als Menschen dazu entschieden, nicht zu akzeptieren, dass uns das Gleiche passiert. Wir nehmen Krankheit nicht als schicksalhaft hin, sondern kämpfen dagegen. Daher sollten wir auch mit einer guten Ernährung gegensteuern. 

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Was kann eine gezielte Ernährung in so einer Situation denn leisten? 
Eine große Studie aus der Schweiz hat gezeigt, dass sich die durch Mangelernährung entstandene Kliniksterblichkeit um 30 Prozent senken lässt. Andere Untersuchungen kommen zu dem gleichen Ergebnis. Es gibt nicht viele Medikamente, die die Sterblichkeit in so kurzer Zeit so stark senken können. Wenn man das hochrechnet, dann ließen sich durch eine leitliniengerechte Behandlung in Deutschland jährlich 55.000 Todesfälle vermeiden, die durch Mangelernährung bedingt sind. 

Patienten bleiben im Schnitt nur etwa eine Woche im Krankenhaus, wieso ist der Effekt so groß?
Etwa zehn Prozent aller Krankenhauspatienten verbringen mehr als vier Wochen im Krankenhaus. Gerade mangelernährte Menschen liegen dort meist deutlich länger. Wir wissen von den irischen Hungerstreikenden 1981, dass man als gesunder Mensch nach etwa 60 Tagen ohne Essen stirbt. Bei einem geschwächten Körper, mit chronischen oder multiplen Erkrankungen und einer schon bestehenden Mangelernährung reden wir über sehr viel kürzere Zeiträume. Stellen Sie sich eine ältere, ohnehin vorerkrankte Frau vor, die wegen einer gebrochenen Hüfte im Krankenhaus liegt und wegen der Schmerzen keinen Appetit hat. Da kann es sein, dass sie drei Wochen so gut wie nichts zu sich nimmt. Das ist gefährlich, wenn nicht behandelt wird. 

Wie viele Kliniken setzen denn schon auf Screening und Ernährungstherapie, um solchen Patienten zu helfen? 
Genau wissen wir das nicht, weil diese Daten nicht erhoben werden. Wir gehen aber davon aus, dass es in Deutschland weniger als zehn Prozent der Kliniken sind.

Das ist sehr wenig. 
Wie viele Leben man retten könnte, ist noch immer nicht bis in alle Ebenen vorgedrungen. Es auch lange gebraucht hat, bis die Fachexperten das wirklich verstanden haben.  

Warum? 
Mit dem Siegeszug der modernen, hoch technisierten Medizin hat man die Grundlage für Gesundheit – zu der vor allem Bewegung und Essen gehören – vernachlässigt.  Dabei sind diese Therapien mindestens genauso wichtig wie neue Krebsmedikamente. Es gibt dieses berühmte Zitat von Hippokrates: “Lasst eure Nahrung eure Medizin sein.” Damals hatte man natürlich keine Medikamente im modernen Sinne. Aber auch heute noch gilt: Die Ernährungstherapie ist eine der wichtigsten Behandlungen, die wir haben. 

Im Krankenhaus und in der Politik geht es leider oft ums Geld. Was würden sie denn kosten, Ihre Forderungen? 
Nichts, weil es sogar Geld einspart. Im Schnitt steigen die Kosten des Gesundheitssystems durch den hohen zusätzlichen Therapiebedarf für jeden mangelernährten Patienten um etwa 1800 Euro. Wir gehen wir davon aus, dass sich die Zusatzkosten allein im stationären Bereich pro Jahr auf fünf bis neun Milliarden Euro belaufen. Diese Kosten lassen sich durch eine gute Ernährungstherapie deutlich senken. Dazu kommt: Die Zahl der Wiederaufnahmen ins Krankenhaus ist sechs Monate nach der Entlassung bei Menschen, die eine Ernährungstherapie bekommen, um fast ein Viertel reduziert. Allein das ist eine enorme Ersparnis, weil jeder Krankenhausaufenthalt extrem teuer ist. 

Das sind doch gute Argumente für eine Ernährungstherapie. Warum setzen Kliniken das trotzdem nicht um?
Weil das keine Einsparungen sind, die ihnen unmittelbar zugutekommen, vor allem nicht zu Beginn. 

Wie meinen Sie das?
Die Kliniken müssen erst einmal mehr Ernährungsfachkräfte einstellen. Außerdem lässt sich die Ernährungstherapie nicht abrechnen wie zum Beispiel ein operativer Eingriff, weil sie nicht als medizinische Leistung definiert ist. Da sagen viele Verwaltungsdirektoren: “Eine Ernährungstherapie wäre zwar schön, aber wir haben überhaupt kein Geld dafür.” Wenn man dann noch erklärt, dass es nicht nur medizinisch, sondern auch gesellschaftlich sinnvoll ist, weil diese Patienten viel seltener wieder aufgenommen werden, heißt es: “Wir haben sowieso sinkende Fallzahlen. Die Wiederaufnahmerate ins Krankenhaus zu reduzieren, ist für uns als Geschäftsmodell nicht attraktiv.” 

So aber werden doch Todesfälle in Kauf genommen. Was lässt sich dagegen tun? Experten fordern schon lange, Ernährungstherapie als medizinische Leistung einzustufen und zu vergüten. Ist da etwas passiert?
Die Krankenhausreform hat unsere Vorschläge nicht aufgegriffen. So platt kann man es sagen. Das Bundesministerium für Gesundheit sieht die Krankenhausverpflegung in der Selbstverantwortung der Kliniken. Ich halte das für falsch und gefährlich. In anderen Fällen hat man da in der Vergangenheit deutlich klüger entschieden. 

Können Sie das erklären? 
Beim Thema Hygiene gibt es klare Richtlinien und Vorgaben vom Robert Koch Institut. Wenn ein Krankenhaus über 400 Betten hat, muss es eine definierte Anzahl von Menschen vorhalten, die sich um die Hygiene kümmern. So etwas gibt es für Ernährung nicht. Dabei sind die Auswirkungen auf die Gesundheit mindestens genauso groß. Es würde auch niemand auf die Idee kommen zu sagen, dass die Physiotherapie nach einer Hüftoperation oder auf der Intensivstation verzichtbar wäre. 

Glauben Sie, dass wir beim Krankenhausessen auch noch dahinkommen? 
Natürlich. Denn wir können es uns nicht leisten, die Vulnerabelsten unter uns nicht angemessen zu behandeln.

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