CERN und Russland gehen getrennte Wege. Kritiker beklagen, Wissenschaft werde instrumentalisiert. Doch Forschung entkoppelt von der Weltpolitik zu betreiben, ist ein frommer Wunsch.
Seit Monaten war der Schritt angekündigt, im November wird er nun vollzogen: “Russland fliegt bei weltgrößter Forschungsmaschine raus”, wie die Deutsche Presse-Agentur markant formuliert. Gemeint ist, dass das CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung, die Kooperation mit Russland beendet.
Die Großforschungseinrichtung mit Sitz bei Genf ist vor allem für den Bau des weltgrößten Teilchenbeschleunigers berühmt, an dem das Higgs-Teilchen entdeckt wurde. Geleitet wird das CERN von 24 Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz. Weitere Länder sind als assoziierte Mitglieder dabei, etwa auch die Ukraine. Zudem nehmen einige Staaten einen Beobachterstatus ein, wie die USA. Auch Russland hatte einen solchen Status inne, verlor ihn aber nach seinem Angriff auf die Ukraine 2022. Die Kooperation wurde über Verträge geregelt, die 2024 ausliefen. Das CERN hat diese Verträge nicht verlängert.
Damit sind russische Institute nicht mehr an der Forschung am CERN beteiligt. Russische Staatsangehörige dürfen weiterhin am CERN forschen, vorausgesetzt, sie arbeiten an nichtrussischen Instituten. Einige Forschende sind daher in den vergangenen Monaten etwa zu deutschen Einrichtungen gewechselt.
Politisches Theater im Weltraum
Die Entscheidung wurde vom CERN Council getroffen, einem Gremium der Mitgliedsstaaten und damit einem politischen Gremium. Kritik ist vor allem von denen zu hören, die sie ausbaden müssen: den Forschenden, deren Projekte sich nun womöglich verzögern und die sich mit ihren russischen Kollegen und Kolleginnen solidarisieren.
Manche Beobachtende bezeichnen die Entscheidung als überfällig. Andere bemängeln, das CERN – und damit die Wissenschaft generell – werde für Symbolpolitik missbraucht. Lesenswert fasst diesen Standpunkt der Physiker Hannes Jung zusammen, der in einem CERN-internen Magazin kritisiert: “Forschung braucht Kooperation, nicht Ausgrenzung.”
Befürworter der Kooperation beschwören die Macht der Forschung, der Menschheit eine gemeinsame Vision zu schenken. Das CERN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, um die kurz zuvor noch verfeindeten europäischen Staaten in der gemeinsamen Forschung zusammenzuführen. Ost und West arbeiteten hier selbst in den Hochphasen des Kalten Kriegs miteinander.
Doch das Narrativ, Forschung selbst sei apolitisch, ja ein Friedensprojekt, ist kritisch zu sehen. Als 1975 eine US-amerikanische “Apollo”-Kapsel und ein sowjetisches “Sojus”-Raumschiff im Erdorbit aneinanderkoppelten und wenig später der Astronaut Deke Slayton und der Kosmonaut Alexej Leonow eng umschlungen für die Kameras posierten, wurde die Politik eben nicht von der Wissenschaft überwunden, sondern diese geriet vielmehr zu einer Spielfläche der Politik. Für solche Formen der Vereinnahmung waren Forschende besonders dann offen, wenn es ihnen half, teure Großprojekte zu finanzieren.
Bis 1969 war der Weltraum ein Schlachtfeld, auf dem die USA und die UdSSR ihren Konflikt austrugen. Danach wandelte er sich zu einem Ort, an dem Entspannung erprobt wurde. 1975 begegnen sich die beiden Nationen im Orbit, als die US-Astronauten Donald K. Slayton und Thomas P. Stafford auf den Kosmonauten Aleksey A. Leonov trafen
© Bettmann Archive
Letztlich konnten weder die Internationale Raumstation noch das CERN noch die Kernfusionsanlage ITER als wissenschaftliche “Friedensprojekte” den Krieg in der Ukraine verhindern. Und “die Menschheit” bringen sie auch nicht zusammen. Schließlich sind weite Teile der Menschheit, etwa in Afrika, von diesen Projekten weitgehend ausgeschlossen.
Bleibt die Frage, warum eine Zusammenarbeit mit Russland heute anders als während des Kalten Kriegs mit der Sowjetunion nicht mehr möglich sein soll. Wie begründet das CERN Council dies? Leider viel zu wenig. Hauptkritikpunkt ist die Politisierung der russischen Institute. Geleitet würden sie nicht mehr von Wissenschaftlern, sondern von Personen, die diese im Sinne des Regimes ausrichten – unter anderem auf Forschung, die sich militärisch nutzen lasse.
Ein Wille zum Frieden ist nicht erkennbar
Sollten die russischen Institute keine freien Orte der Wissenschaft mehr sein, sondern zunehmend ein Regime unterstützen, das durch einen Angriffskrieg die europäische Friedensordnung gebrochen hat, das in der Ukraine zivile Strukturen gezielt angreift, das Menschenrechtsverletzungen, Kinderverschleppungen und Massenvergewaltigungen befehligt, wäre eine Zusammenarbeit tatsächlich problematisch. Der Vergleich mit dem Kalten Krieg würde in diesem Fall hinken. Damals gab es auf beiden Seiten einen Willen zur Deeskalation, schon allein, weil ein heißer Krieg beiderseitige Vernichtung bedeutet hätte. Heute jedoch ist kein Friedenswille aufseiten Russlands zu erkennen. Im Gegenteil: Das Regime verfolgt jene Wenigen, die für Frieden und eine Kooperation mit dem Westen plädieren.
Letztlich lässt sich von außen nicht beurteilen, ob im Fall des CERN westliche Staaten ihre Sanktionspolitik auf dem Rücken der Forschung austragen oder ob sie bloß auf eine Politisierung der Wissenschaft durch Russland reagieren. Zwar vermag die Wissenschaft den Blick aus den Krisen der Gegenwart auf die Möglichkeiten der Zukunft zu richten. Doch sie wird aus der Gegenwart heraus finanziert und geleitet. Damit ist sie unweigerlich im Heute verankert, mit all seinen Problemen.