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Ukraine-Krieg: Selydowe – Russen rücken vor, nächste Stadt im Donbass fällt

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Ukrainische Soldaten haben die Stadt Selydowe geräumt. Die Russen konnten das Städtchen in Rekordzeit einnehmen. Im Osten ist die Lage mehr als nur kritisch. 

 

Die freie Ukraine hat eine weitere Stadt im Donbass verloren. Selydowe, ein wichtiger Stützpunkt, ausgebaut zur Festung seit den Kämpfen 2014/2015. Seit dem Fall von Awdijiwka kann Kiew die Ostfront nicht stabilisieren. Jeden Tag gehen Baumreihen, Befestigungen und Dörfer verloren. Aber eben auch Städte, nach Awdijiwka fiel bereits Wuhledar. Und nun musste Selydowe aufgegeben werden. Im Prinzip ist das eine kleine unbedeutende Stadt mit einer Vorkriegspopulation von etwa 23.000 Personen und dabei wurde das Umland schon mitgezählt. Eine typische Kleinstadt im Donbass. Eigentlich ein Kosakendorf wuchs die Siedlung wegen einer Mine zur Stadt heran so wie Wuhledar auch. Die Bedeutung heute liegt im festungsartigen Ausbau der Stadt. Solche Positionen dienen als Wellenbrecher, als feste Punkte in der Front, die den rückwärtigen Raum schützen. 

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Selydowe wurde in wenigen Tagen erobert

Erschreckend am Fall von Selydowe ist die Geschwindigkeit. Die Russen brauchten keine drei Wochen, um die Stadt zu erobern. Bis zum Fall des allerdings ungleich größere Bachmut vergingen acht Monate verlustreicher Kämpfe. In Selydowe zeigt sich erneut das veränderte russische Vorgehen. Jeder Schritt wird von massiven Bombardements durch Artillerie und Gleitbomben vorbereitet inklusive Drohnendominanz im Luftraum. Auch dieses Mal zielten die entscheidenden Stöße nicht auf das befestigte Stadtgebiet. 

Vom Süden kommend konnten die Russen entlang der Eisenbahn vorstoßen und die Ortschaft Wyschnewe erreichen. Damit hatten sie die Hauptverbindung der Stadt zunächst unter Feuerkontrolle, bevor sie die Route gänzlich kappten. Wie in anderen Fällen auch, zeigt sich, dass die Ukrainer ihren Hauptstützpunkt durchaus sichern können, aber ihnen die Kräfte für die Umgebung fehlen, so dass sie umgangen werden. Mit dem Verlust von Wyschnewe waren die Verteidiger auf eine Zufahrtsstraße angewiesen. Als nächstes griffen die Russen im Norden der Stadt an. Dort warfen sie die Verteidiger aus einer Fabrik und konnten danach den Abraumberg der Anlage einnehmen. Damit war das Schicksal des Städtchens besiegelt. Von dem Hügel aus konnten die Angreifer die letzte verbliebene Zufahrtsstraße sowie das gesamte Stadtgebiet einsehen und unter Feuer nehmen. Die anschließenden Gefechte verzögerten den russischen Vormarsch nur noch, dienten lediglich dazu, den Rückzug der ukrainischen Truppen zu decken. Am Morgen des 27. Oktober sollen die letzten Verteidiger die Stadt verlassen haben. 

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Kiew verliert die Stützpunkte im Osten 

Doch was bedeutet der Verlust von Selydowe? Der schnelle Erfolg der Russen und die deutliche Überlegenheit ihrer Feuerkraft verheißt auch für die Zukunft nichts Gutes. Selydowe schirmte die Großstadt Prokrowsk vom Südosten her ab. Die Luftlinie misst etwa 17 Kilometer. Dazwischen liegen weitere kleinere Siedlungen. Die Ukrainer werden versuchen, dort die Russen aufzuhalten oder deren Vorstoß zumindest zu verzögern. Dafür müssen sie den Kampf aus ungünstigen Positionen aufnehmen. Die Karte zeigt die ukranisxche Großstadt Pokrowsk im oberen Sektor, Selydowe am unteren Rand
© Military Summary

Auch an anderen Abschnitten der Ostfront ist die Lage kritisch. Für Prokrowsk am bedrohlichsten sind derzeit zwei russische Angriffsspitzen im Raum südöstlich von Donezk. Dort greifen die Russen die Dörfer Shakhtars’ke, Novoukrainka und Bohoyavlenka an. Auch hier bereiten die Russen den Angriff mit ihren Fernwaffen vor. Etwa mit Raketenartillerie, darunter auch die gefürchteten TOS-Systeme, die Aerosol-Geschosse verschießen. Diese thermobarischen Waffen entfesseln im Zentrum einen tödlichen Feuerball und darüber hinaus eine zweifache Druckwelle, die die inneren Organe zerschmettert.

Wenn die Angreifer nicht gestoppt werden, werden sie versuchen, hier in Richtung der Fernstraße N15 vorzustoßen und einen großen Kessel zu bilden in dem die beiden von Ukrainern gehaltenen Städte Kurachowe und Kurachiwka gefangen wären. 

Offene Landschaft erschwert die Verteidigung

Die Kämpfe in der Ukraine zeigen einen Krieg in Zeitlupe, die Wiederkehr eines Manöverkrieges ist unwahrscheinlich. Auch in Zukunft werden sich die Russen Dorf um Dorf vorkämpfen. Sobald sie aber die Industriezone des Donbass verlassen und die Agrarzone der großen Felder erreichen, wird eine erfolgreiche Verteidigung schwerer. Die Siedlungen werden kleiner, die offenen Räume zwischen ihnen größer und es fehlen die massiv gebauten Industrieanlagen. Eine kleine Stadt wie Selydowe ist groß genug, um zweitausend Soldaten und ihre Ausrüstung zu verbergen. Das ist im offenen Terrain nicht möglich, entsprechend leichter werden die Russen Ziele für ihre Gleitbomben finden. TOS-3 Drachen 21.00

Kiew gelingt es, die Lage in der direkten Umgebung von Prokrowsk zu stabilisieren. Das liegt jedoch daran, dass die Russen den Angriffsschwerpunkt verlagert haben. Mit den Angriffen jetzt, können sie 2025 versuchen, von Süden aus in den Rücken der Großstadt zu kommen und so die letzte große Städtekette, die Kiew im Osten hält, vom Westen abzuschneiden. Das muss das ukrainische Militär auf jeden Fall verhindern. Doch dann besteht die Gefahr, dass die Russen nicht auf diese Städte zumarschieren, sondern in Richtung Dnipro schwenken und Kiew das vergleichsweise offene Land bis zu dem Fluss abnehmen. 

Kiew erlangt nicht mehr das Momentum 

Im Bodenkrieg ist die Ukraine in der strategischen Defensive gefangen, daran haben auch die temporären Erfolge in der Region von Kursk nichts geändert. Im Osten bestimmen die Russen, wann und wo sie angreifen. Kiew ist zu schwach, um selbst die Initiative zu ergreifen. Mit Absicht fächern die Russen die Frontlinie immer weiter auf – die Sowjets haben vom Aufblühen der Front gesprochen. Die zahlenmäßig unterlegenen Ukrainer können diese Linie immer weniger abdecken, sich aber nicht zu einem Rückzug auf eine kürzere Front entschließen. Dabei warnte schon der preußische König Friedrich der Große einst: “Wer alles verteidigt – verteidigt nichts!”

Die Russen greifen schließlich dort an, wo die Ukrainer am schwächsten sind. Dort, wo sie nur auf Eingezogene mit ungenügender Ausbildung und Ausrüstung treffen, die Zufahrtswege und Flanken sicher sollen. 

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