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Fried – Blick aus Berlin: Warum Scholz die Vertrauensfrage nicht gestellt hat – obwohl er es könnte

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Die Vertrauensfrage ist ein starkes Druckmittel des Kanzlers. Olaf Scholz hat darauf verzichtet. Er wollte sich ersparen, dass die Zählerei losgeht. Warum das eine gute Idee war, weiß unser Autor. 

Der Kanzler saß mit kritischen Genossen zusammen. Er hatte 74 Sozialdemokraten vom linken Flügel zum Abendessen ins Kanzleramt eingeladen und redete zwischen den Gängen in finsteren Szenarien. Wenn der Anti-Terror-Einsatz nicht unterstützt werde, müsse er das als “Misstrauen” gegen seine Person werten, sagte Gerhard Schröder an jenem Abend im November 2001. Das war eine unverhohlene Drohung: Schröder erwog, die Vertrauensfrage zu stellen.

Wenn Sie mal so alt sind wie ich, liebe Leserinnen und Leser, werden Sie sehen, dass in der Berliner Politik kaum etwas passiert, ohne dass man denkt: Das gab’s schon mal. Zumindest ähnlich. So wie vergangene Woche. Da sagte Olaf Scholz, der erste sozialdemokratische Kanzler nach Schröder, in der SPD-Fraktionssitzung, das Sicherheitspaket der Koalition brauche bei der Abstimmung im Bundestag eine eigene Mehrheit der Koalition. Andernfalls “muss ich von meinen Möglichkeiten Gebrauch machen”. Ein unmissverständlicher Wink. Der Plural von Möglichkeit klingt zwar, als habe Scholz nur einen Blick in sein vielfältiges Waffenarsenal gewährt. Doch wenn die Überzeugungskraft nicht reicht, bleibt einem Kanzler in Wahrheit nur eine Möglichkeit zur Disziplinierung der Truppe: die Vertrauensfrage im Bundestag. Schröder machte Ernst. Scholz nicht. Aus gutem Grund.

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Die Vertrauensfrage versetzt den Parlamentsbetrieb in den Ausnahmezustand. Auf die Ankündigung 2001 folgte in den Regierungsfraktionen von SPD und Grünen Sondersitzung auf Sondersitzung. Wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse wurde immerzu gezählt, mit wie vielen Abweichlern zu rechnen sei. Wegen der knappen Mehrheit durfte selbst eine hochschwangere Abgeordnete der SPD-Fraktion nicht fehlen, ein Arzt stand bereit, hätten an der Wahlurne die Wehen eingesetzt. Eine Sozialdemokratin und vier Grüne stimmten gegen den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr und mithin gegen ihren Kanzler. Die nötige absolute Mehrheit von 334 Stimmen übertraf die Koalition trotzdem – um zwei Stimmen.

Hätte Scholz die Vertrauensfrage gestellt, wäre die Zählerei losgegangen

Scholz hat auf die Vertrauensfrage verzichtet. Dabei verfügt er anders als Schröder über eine komfortable Mehrheit. Bei aktuell insgesamt 733 Abgeordneten liegt Scholz mit 415 Ampel-Parlamentariern 48 Stimmen über Par. Die Koalition kann sich einige Abweichler leisten. Hätte Scholz die Vertrauensfrage gestellt, wäre die Zählerei dennoch losgegangen – viele Abgeordnete hätten gegen das Asylpaket stimmen können, ohne ihren Kanzler zu gefährden. Bei Schröder stand am Ende eine fast geschlossene Mehrheit. Bei Scholz hätte die Mehrheit auch gestanden, nur womöglich alles andere als geschlossen. Merke: Bei einer knappen Regierungsmehrheit kann die Vertrauensfrage disziplinieren – und bei einer deutlichen Mehrheit das Gegenteil bewirken.

Eines haben Scholz und Schröder übrigens gemeinsam: Oppositionsführer Friedrich Merz. Ein Kanzler, der die Abstimmung über eine Sachfrage mit einer “rein parteipolitischen Frage” verknüpfen müsse, sei kein Kanzler, der “eine kraftvolle Regierung anführe”, höhnte dieser 2001. Bei Scholz und Dutzenden Gegenstimmen hätte er vermutlich diagnostiziert, dem Kanzler entgleite die Koalition. In der Schlussabstimmung zum Asylpaket vergangene Woche stimmten 15 SPDler und sechs Grüne mit Nein, insgesamt acht Koalitionsabgeordnete enthielten sich, einige blieben der Abstimmung fern. Ein tolles Ergebnis war das nicht für Scholz. Aber weil er auf die Vertrauensfrage verzichtet hatte, krähte kein Hahn danach. Auch nicht Friedrich Merz.

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