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Tierrechte: Was wir von dem Zwergflusspferd-Baby Moo Deng lernen können

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Im Sommer eroberte Moo Deng das Internet. Jetzt hat er seinen eigenen 24-Stunden-Livestream. Doch was hat er uns eigentlich zu sagen? Kleine Philosophie des Zwergflusspferds

Da dümpelt Moo Deng nun in seinem schwarzen Plastikkübel im Khao Kheow Open Zoo in Thailand, träumt und glänzt so vor sich hin und ahnt nicht, dass sein speckig schimmerndes Dasein schnurstracks zu einem der größten philosophischen Probleme führt, die uns seltsame Zweibeiner von der anderen Seite des Zoo-Zauns seit nunmehr genau 50 Jahren beschäftigen.

Das alles ist ja auch überaus faszinierend: Die gesamte Menschheit kann nun Moo Deng Tag und Nacht über eine Webcam live beobachten und studieren. Nämlich hier:

Youtube: Moo Deng

Wie es wirklich ist, Moo Deng zu sein

Thailands führende Zoologen können ihn vermessen, wiegen und analysieren. Wir können Moo Deng vollumfänglich wissenschaftlich erfassen. Aber eines können wir nicht: Wir können uns nicht vorstellen, wie es wirklich ist, Moo Deng zu sein.

Du, der du gerade Herzchen in den Youtube-Kommentaren fliegen lässt, du kannst nicht wissen, wie genau es sich anfühlt, wenn deine Haut so empfindlich ist, dass sie dauernd gewässert und eingeschlämmt werden muss; wie genau es sich anfühlt, wenn deine Haut so verletzlich ist, dass sie sogar über Spezialdrüsen verfügt, die extra eine alkalische Schleimschicht produzieren, die dich vor Sonnenbrand schützt.

Du, der du gerade ein hingerissenes “Awwwww!” auf Tiktok absendest, kannst nicht wissen, wie es ist, die scharfkantige Betonwelt eines Zoos mit solch einer hypersensiblen Haut zu erspüren, zu ertasten, zu erfühlen. Denn kein Mensch wird je in Moo Dengs Haut schlüpfen können.

Zwergflusspferdverdauung als GPS-System

Du, der du gerade ein drolliges Hippo-Meme auf X postest, du kannst nicht wissen, wie es sich anfühlt, dazu gezwungen zu sein, vor der Weltöffentlichkeit ganz profan auf den nackten Boden eines thailändischen Zoogeheges zu defäkieren, wo doch deine ganze Verdauung von Natur aus eigentlich dazu eingerichtet ist, dass sie dir Orientierung in der Welt verschafft.

Denn tatsächlich ist eine Zwergflusspferdverdauung ein überlebenswichtiges GPS-System. In freier Wildbahn dringen die Tiere auf der Suche nach Nahrung nämlich immer tiefer in dichten Regenwald ein, während sie fortwährend defäkieren und ihre Ausscheidungen mit ihrem ununterbrochen rotierenden Stummelschwänzchen zwischen Lianen, Orchideen und Mahagoni-Bäumen verteilen. Wenn sie dann genug Knollen und Farne gefressen haben und zurück in ihr Lieblingsgewässer wollen, finden sie nur deshalb den Weg dorthin, weil sie ihrer eigenen Duftspur folgen können. Man kann nun davon ausgehen, dass ein solches Verhalten Moo Deng bei seinen Pflegern nicht wirklich beliebter macht.

Das Liebeslied der Fruchtfliege

Moo Deng ist gerade das wohl am meisten betrachtete Tier der Welt. Und trotz Livestream, Milliarden Memes und Trillionen TikTok-Snippets wird er uns auf immer zutiefst fremd bleiben. Wir werden niemals wissen, wie es sich im tiefsten Innern anfühlt, ein Zwergflusspferd zu sein. Selbst dann nicht, wenn wir sein Gehirn in 7000 Scheibchen schneiden und all seine Synapsen kartografieren würden, wie es soeben Neurologen mit einer Fruchtfliege gemacht haben. Das neurologische Experiment hat übrigens gezeigt, dass männliche Fruchtfliegen Liebeslieder komponieren, die sie den Weibchen mit surrenden Flügeln darbieten.

Aufnahme aller 139.255 Zellen im Gehirn einer Fruchtfliege. Die Aktivität in diesen Zellen steuert den gesamten Organismus, von der Sinneswahrnehmung über die Entscheidungsfindung bis hin zur Steuerung von Handlungen wie dem Fliegen. Sie sind durch über 50 Millionen synaptische Verbindungen miteinander verbunden
© Tyler Sloan for FlyWire, Princeton University

Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel beschrieb die Unergründlichkeit der Tiere 1974 in seinem weltberühmten Essay “Wie es ist, eine Fledermaus zu sein”. Alles, was er darin zur Fledermaus sagte, gilt auch für unser Zwergflusspferd-Baby.

Nagel schrieb seinen Essay in einer Zeit boomender Neurowissenschaften. Damals war es plötzlich groß in Mode, den menschlichen Geist auf ein reines Synapsenfeuerwerk zu reduzieren. Die Wissenschaft ging davon aus, das Bewusstsein als eine Summe von rein physischen Nervenreizen beschreiben zu können. Nagel hingegen wollte die subjektive Dimension des Bewusstseins hervorheben.

Er argumentierte, dass sogar Säugetiere mit einigermaßen komplexem Nervensystem immer auch ein subjektives Erleben haben. Und selbst wenn wir alles über die objektiven und neurologischen Zustände eines solchen Tieres wüssten, würden wir die Vorgänge in seinem Bewusstsein niemals wirklich nachempfinden können. Weil unser Vorstellungsvermögen durch die Grenzen des menschlichen Geistes begrenzt ist.

Das Bewusstsein passt nicht unters Mikroskop

Nagel wehrte sich gegen eine rein materialistische Auffassung des Bewusstseins und forderte mehr Bescheidenheit von der Forschung: Bewusstsein, ob von Mensch oder Tier, passt nicht unter ein Elektronenmikroskop. Subjektives Erleben lässt sich nicht kartografieren.

Mit dem einflussreichen amerikanischen Philosophen Nagel können wir nun folgern, dass auch jedes Zwergflusspferd über ein Bewusstsein verfügt, das sehr viel mehr ist als die Summe seiner pulsierenden Hirnströme. Seine Innenwelt muss so reich sein wie der Regenwald, in dem es ursprünglich lebt. Denn nur, weil sich unser menschlicher Geist etwas nicht wirklich vorstellen kann, bedeutet das nicht, dass es nicht existiert. Selbst wenn wir niemals nachempfinden können, was Moo Deng in seinem Gehege erlebt, müssen wir davon ausgehen, dass er dort ein tiefes subjektives Empfinden hat.

Wir müssen nun unseren Blick kurz abwenden vom flackernden Handy-Display, ihn auf eine ruhige Fläche lenken und dann innerlich noch einmal den folgenden Satz nachsprechen – ganz langsam und ganz deutlich: Moo Deng hat ein tiefes subjektives Empfinden. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dass das innere Erleben eines Mini-Hippos, eines Tiefsee-Kraken oder einer Fledermaus nicht von ebensolchem Reichtum, ebensolcher Komplexität und Schönheit ist wie das des Menschen.

Daraus kann nur folgen, dass wir eine vollkommen neue Tierethik brauchen. Bei eingehender Meditation über Zwergflusspferd-Wesen wird klar, dass wir in unserem Umgang mit Tieren berücksichtigen müssen, dass sie ein ganz eigenes, für uns vollkommen unzugängliches Innenleben haben. Es ist keineswegs minderwertiger – es ist nur anders.

Der Regenwurm als Kläger

Warum also gibt es keinen Internationalen Gerichtshof für Tierrechte? Warum kann ein Anwalt vor Gericht nicht die Rechte eines ganz konkreten Zwergflusspferd-Babys vertreten? Warum ist es nicht illegal, Zwergflusspferd-Babys einzusperren? Weil Gesetze von Menschen gemacht werden und Tiere nicht berücksichtigen. Das muss sich ändern. Man könnte zum Beispiel fordern, dass “sämtliche Tiere die Möglichkeit haben, ein Leben zu führen, das mit ihrer Würde und ihren Bestrebungen im Einklang steht” – so, wie es die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum in ihrem jüngsten Buch “Gerechtigkeit für Tiere: Unsere kollektive Verantwortung” tut. Und ja, das gilt auch für den Regenwurm.

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In letzter Konsequenz kann uns eine fachgerecht durchgeführte Mini-Hippo-Meditation nur dazu veranlassen, Tieren exakt denselben Respekt entgegenzubringen wie Menschen. Nun ist unser Respekt vor unseren Artgenossen in der Praxis natürlich leider sehr dehnbar. So lassen wir zum Beispiel einige unserer Mitmenschen einfach im Mittelmeer ertrinken. Aber tief in unserem Inneren wissen wir, dass dies nichts anderes als ein Verbrechen sein kann.

Bei Tieren hingegen akzeptieren wir nicht einmal theoretisch, dass sie uns vollkommen ebenbürtig sind. Oder wir ahnen es, verdrängen es aber lieber schnell, weil es unser Leben einfacher macht. Natürlich ist ein Wiener Schnitzel lecker. Natürlich sind Mo Deng-Bilder wahnsinnig süß. Aber folgen wir unserer Vernunft, gibt es keine andere Möglichkeit, als Tiere dem Menschen gleichzustellen.

Sieh nur, ein Zwergflusspferd! Jedes Tier steht vor uns wie eine Herausforderung an unseren Geist, einen angemessenen Umgang mit diesem erstaunlichen Geschöpf zu finden. Und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob ein Zoo-Livestream der richtige Weg ist, dem glänzenden Wunder von Moo Deng zu begegnen.

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