Home » Krieg in der Ukraine: Festung Wuhledar vor dem Fall – Kiews Agonie im Osten

Krieg in der Ukraine: Festung Wuhledar vor dem Fall – Kiews Agonie im Osten

Von

Im Donbass geht die nächste Stadt verloren. Zwar wurde Wuhledar zur Festung ausgebaut, doch die aktuelle russische Taktik ist beängstigend.

In Wuhledar erlitten die Russen ihre schlimmsten Niederlagen. Mehrfach versuchten sie, die zur Festung ausgebaute Stadt im direkten Sturm einzunehmen. Doch ihre Panzer und Transporter gerieten in ein Inferno von Minen, Drohnen und Artillerie. Unter schwersten Verlusten brachen die Angriffe zusammen, ohne dass sie das Stadtgebiet überhaupt erreicht haben.

Wuhledar ist eine typische Stadt des Donbass. In der Nähe liegt eine Kohlemine, Hochhäuser nehmen einen Großteil des Stadtgebiets ein. Daran schließt sich eine Zone einfacher Bebauung an, und nach Osten, zu den Russen, dominieren die Hochbauten. Am Stadtrand dann das abrupte Ende: Es folgen keine Flickenteppiche kleinerer Siedlungen, sondern nur Felder und die typischen Baumstreifen, die einst gegen die Bodenerosion angelegt worden sind.

Die Reste von Wuhledar – rund um die Stadt liegt offenes Gelände und die typischen Baumreihen

Die Stadt erhebt sich wie ein mittelalterlicher Wehrturm über das Gelände. Deshalb konnten die Verteidiger die Umgebung beherrschen – doch nun wird die exponierte Lage zur Falle. Vor etwa drei Monaten starteten die Russen eine erneute Offensive, jetzt steht die Stadt vor dem Fall. Das Schicksal von Bachmut und Awdijiwka hat die Welt in Atem gehalten, Wuhledar droht das gleiche, berichtet wird darüber kaum.

Weiträumige Flankenangriffe

Als die Russen ihren neuen Versuch starteten, die Stadt einzunehmen, waren sie stärker als je zuvor. Und sie gingen sowohl auf der taktischen wie auf der operativen Ebene geschickt vor. Die Verteidiger hingegen, darunter die Eliteformation der 72. Mechanisierten Brigade, waren abgekämpft.

Russischer Angriff auf Wuhledar gescheitert 16.59

Die Russen stürmten nicht mehr frontal auf die Stadt ein. Sie griffen zunächst etwas weiter nördlich an, eroberten dort eine Kohlemine und später wohl auch die dazugehörige Abraumhalde. Von diesem Berg aus hat man freie Sicht auf die Zufahrtsstraßen nach Wuhledar. Wenig später gingen südlich der Stadt die Dörfer an der Fernstraße TO509 verloren: Pawlika und dann Prechystivka. Dieser Ort schützte die Stadt nach Westen hin, er hätte unbedingt gehalten werden müssen, um eine Umfassung zu verhindern. Doch Prechystivka wurde gestürmt, der Widerstand war gering. Wie konnte das passieren? 

Kiew hat die erfahrene 72. Mechanisierte Brigade in der Stadt konzentriert, die Flanken aber einer neu aufgestellten Einheit von Eingezogenen überlassen. Die Soldaten waren aber offenbar weder ausgebildet noch hatten sie Waffen oder die Motivation, um energisch zu kämpfen. Möglicherweise spielt dabei eine Rolle, dass Teile der Militärausrüstung nicht vom Staat gestellt, sondern durch Crowdfunding finanziert werden – darunter die überlebenswichtigen kleinen Drohnen. Diese Mittel aber kommen oft nur den prestigeträchtigen Brigaden zugute. Eine einfache Einheit der Territorialverteidigung hat in der Regel kein weltweites Netzwerk von Unterstützern.

Auch taktisch haben die Russen hinzugelernt. Inzwischen gehen sie zunächst in kleinen Gruppen voran. Sobald sie an der Gegenwehr erkennen, in welchen Positionen der Gegner sitzt, beginnen sie diese systematisch zu zerstören. Mit Drohnen, Artillerie und Bomben. Teilweise wird buchstäblich jedes Haus einer Siedlung zerstört.

Enge Klammer um Wuhledar 

Der letzte Akt für Wuhledar hat am 23. September begonnen. Die Russen sind in das Stadtgebiet eingedrungen. Während sie sich im Ostteil festsetzen, belegen sie den Rest der Stadt mit Einschlägen, dabei setzen sie auch die gefürchteten TOS-Raketenwerfer ein.

Vorstoß im Osten 20.49

Die genauen Positionen der russischen Umfassung sind nicht bekannt oder umstritten, aber zwischen den Angriffsarmen der Russen liegen nur wenige Kilometer. Vermutlich haben sie bereits die Straße von Wuhledar nach Bohoyavlenka erreicht und das dort gelegene Grabensystem eingenommen. Dann führt nur noch ein Feldweg aus der Stadt. 

Die verbliebenen Ukrainer werden versuchen, sich abzusetzen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Das gilt zumindest für die 72. Mechanisierte Brigade. Aber die Voraussetzungen sind schlecht, wenn Kiew keine Kräfte für einen Entlastungsangriff zusammenstellen kann, um zumindest eine Zeitlang einen sicheren Korridor zu schaffen. Aus der Stadt heraus führt der besagte Weg oder ein Marsch entlang der Baumreihen und über die Felder. Die Russen werden einen Ausbruch oder auch ein langsames Heraussickern der Ukrainer erwarten. Der Rückzug wird entsprechende Verluste verursachen: Verwundete und Gerät wird man zurücklassen müssen. Zeit haben die Ukrainer nicht zu verlieren. Sollten die Russen auch vom Westen her in die Stadt eindringen, dürfte es kaum möglich sein, die Verteidiger aus der Stadt zu bringen.

Umland darf nicht verloren gehen

Offen ist, ob und wo Kiew eine neue Verteidigungslinie aufbauen kann. Der nächstgelegene Ort Bohoyavlenka ist wegen der einfachen Bebauung und der Senkenlage ungeeignet. Die rückwärtigen Orte sind allesamt nicht so gut ausgebaut wie Wuhledar, das seit 2014 befestigt ist. Am kritischsten ist das russische Tempo: Einerseits wird seit 2022 um die Stadt gekämpft, aber die jetzige Operation hat nur etwa drei Monate gedauert.

Die Ukraine steht vor dem Problem, dass es nicht ausreicht, Festungen zu verteidigen. Die ganze Front muss gehalten werden. Doch wenn die Kräfte nicht ausreichen, um die Umgebung zu sichern, wird die Festung zur Falle. Hier wiederholt sich das Schicksal der “Festen Plätze” an der deutschen Ostfront 1944.

VERWANDTE BEITRÄGE