Die Bayern hoffen im Rückspiel der Champions League am Mittwoch auf ein Wunder gegen Manchester City. Insgeheim aber haben sie sich mit dem dritten Viertelfinal-Aus in Folge in der Königsklasse abgefunden. Das wird Folgen haben.
Helmut Schön war zeitlebens “der Mann mit der Mütze”. Der ehemalige Bundestrainer, mit dem DFB-Team Welt- und Europameister, nahm seine typische Kopfbedeckung sehr selten ab, erhielt daher diesen Spitznamen. In München spricht man dieser Tage vom “Mann mit dem Käppi”. Denn Thomas Tuchel, der neue Trainer des FC Bayern, trägt ständig eine Baseball-Cap. Wohl auch, um zu verbergen, was Männer im Alter von 49 Jahren obenrum eben oft fehlt.
Nur bei besonderen Anlässen zeigt Tuchel seine Denkerstirn und die Geheimratsecken. Bei seiner Präsentation zum Amtsantritt und diesen Dienstagabend, jeweils im Pressekonferenz-Saal der Allianz Arena. Ein Hinweis auf die Wichtigkeit des Augenblicks?
Die Bayern brauchen ein in ihrer über 60-jährigen Europapokal-Geschichte nie geschafftes Wunder, sie müssen am Mittwochabend ein 0:3 im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League aufholen. Dazu kommt: Manchester City verlor unter Trainer Pep Guardiola nur drei Mal mit drei oder mehr Treffern Differenz. “Vielleicht ist ja was Magisches möglich”, hat Kapitän Thomas Müller gesagt, “wir wissen, dass im Fußball schon ganz andere Dinge passiert sind.” Man müsse “einen Berg erklimmen”, meinte Tuchel und fügte mit der notwendigen Portion Realismus hinzu: “Die Aufgabe ist extrem schwer. Wir wissen, was auf uns wartet. Wenn wir auf dem maximalen Level spielen, kann alles passieren. Wir brauchen das Momentum und dafür, dass dieses auf unsere Seite kippt mindestens die gleiche Leistung wie im Hinspiel.” Trotz des 0:3 von Manchester hatte sich der Trainer “wegen der sehr guten 70 Minuten” in seine Mannschaft “schockverliebt”, weil er sein Urteil über die Leistung nicht am Endstand festmachen wollte. Ein rhetorischer Kniff.
Der FC Bayern München steht vor einem großen Einschnitt
Seit seinem Amtsantritt vor etwas mehr als drei Wochen besticht Tuchel durch seine angenehme Art und eine überzeugende Ansprache. Am Dienstagabend betonte er: “Wir können kein Wunder herbeireden. Es wäre ja fast ein Wunder, wenn wir es schaffen. Es geht darum, den Glauben zu finden. Gleichzeitig heißt glauben: nicht träumen. Wir sind dafür verantwortlich, dass der Funke überspringt, dass wir auch die Zuschauer mitnehmen. Dann machen wir es Halbzeit für Halbzeit, Schritt für Schritt.”
Doch innerlich haben sich wohl alle Beteiligten an der Säbener Straße schon mit dem dritten Viertelfinal-Aus in der Champions League hintereinander abgefunden. Solch eine Anti-Serie gab es zuletzt in den 2000ern. Nach dem Triumph in der Königsklasse 2001 kam man in sieben Spielzeiten in der Champions League nicht über das Viertelfinale hinaus.
Was würde dieser Einschnitt bedeuten, da bereits das Ziel DFB-Pokalsieg vor zwei Wochen in der Freiburger Gegenwehr zerbröselte (1:2) und die Meisterschaft nach zehn größtenteils souveränen Zieleinläufen diesmal von der – mal bissigen, mal zahnlosen – Dortmunder Borussia angeknabbert wird? Welche Auswirkungen hätte der endgültige Abschied vom Traumziel Henkelpott für die Bayern?
Zunächst für Tuchel selbst: Der ehemalige BVB-Coach wurde in einer Hauruckaktion verpflichtet, um die unter Vorgänger Julian Nagelsmann gefährdeten Saisonziele zu retten. Scheidet Bayern nun auch aus der Champions League aus, wäre Tuchels Image trotz des schwierigen, weil urplötzlichen Einspringens in der heißesten Phase der Saison angeknackst. Die Bosse haben ihn als “best choice” auserkoren, ihm einen Vertrag bis 2025 gegeben. Eine Stabilität der Mannschaft auf dem Platz und Souveränität in der Spielführung sind momentan reines Wunschdenken. Das gesamte Vereinsgebilde wirkt instabil, die Unruheherde sind längst von außerhalb bis in den “inner circle”, bis in die Kabine gekrochen. Siehe den Kabinenmaulwurf, der Interna in die Presse durchsteckte.
Das Selbstverständnis bei den Bayern ist weg
Mit wegweisenden Transfers, vor allem wird dringend ein hochkarätiger Mittelstürmer gesucht, einer Rückkehr von Torhüter Manuel Neuer in früherer Form und Klasse und einer richtigen Sommer-Vorbereitung auf seine erste richtige Saison darf Tuchel allerdings nach dem Urlaub im Sommer nahezu von null beginnen. Und die Mannschaft auf links drehen. “Unser Spiel wirkt verkrampft, nicht mit Vertrauen und der allerletzten Selbstverständlichkeit”, analysierte er, “die Inkonstanz ist das Thema in dieser Saison – auch in einzelnen Spielen wie etwa in Manchester. Das ist in der Kürze der Zeit nicht abzustellen, aber wir arbeiten daran.” Intensiver dann ab Juli.
Denn: Das Selbstverständnis im Bayern-Spiel ist weg, die Fehlerhäufung eklatant. Die Mannschaft lässt das Miteinander vermissen. Jeder spielt für sich selbst – und ist sich selbst der Nächste. Die bei einigen Stars gärende Unzufriedenheit über ihre Rolle gipfelte in der Auseinandersetzung zwischen Sadio Mané und Leroy Sané in der Kabine nach dem Manchester-Hinspiel. Nach einem verbalen Disput verpasste Mané seinem Mitspieler eine dicke Lippe. Der frustrierte Superstar und Mega-Einkauf des letzten Sommers, für das Fachblatt “kicker” mittlerweile ein “Showtransfer”, wurde hart sanktioniert. Ein Spiel Suspendierung und die höchste Geldstrafe in der Geschichte des Vereins. Der FC Hollywood erlebt ein Revival in schillerndsten Ausmaßen. Es geht um Titel, Trümmer, Temperamente.
Dass Tuchel nach fünf Spielen in seiner dreiwöchigen Amtszeit seine Philosophie und seine Idee nur ansatzweise implementieren konnte, ist klar. Problematisch wird es, wenn Matchpläne von früheren Ansätzen seines Vorgängers Nagelsmann abweichen und die Spieler daher inhaltlich überladen sind. Die Festplatte ist voll, der Systemabsturz war im Grunde unvermeidlich. Normalerweise erfolgt ein Trainerwechsel, um verunsicherte Spieler wieder auf Kurs zu bringen. Bei den Bayern hat der Trainerwechsel die Spieler zusätzlich verunsichert. Weil sie dies auf dem Platz ausstrahlen, schöpfen die Gegner im Spiel von Minute zu Minute mehr Kraft und Zuversicht.
Die Struktur des Kaders wirkt porös, der Kader selbst ist unausgeglichen zusammengestellt, da für die erste Elf – abgesehen vom langzeitverletzten Lucas Hernández – lediglich 13, 14 Feldspieler für zehn Positionen in Frage kommen. Haben einige Säulen wie Dayot Upamecano, Alphonso Davies, Leon Goretzka, Serge Gnabry, Jamal Musiala und Sadio Mané wie derzeit Formtiefs, wackelt das gesamte Gebilde bedenklich. Tuchel hätte bei einem deutlichen Ausscheiden mehr Argumente für einen radikaleren Umbruch obwohl außer bei den Leihspielern Joao Cancelo und Daley Blind im Sommer kein weiterer Vertrag ausläuft.
Die sportliche Führung steht unter Druck
Darüber entscheidet in erster Linie die sportliche Führung. Aber stinkt bei Bayern der Fisch vom Kopf? Auf der Vip-Tribüne der Allianz Arena sah man Vorstandsboss Oliver Kahn am Samstag beim 1:1 gegen Hoffenheim toben und fluchen wie zu emotionalsten Zeiten seines Torwart-Daseins. Gegenüber den Medien jedoch schwieg er. Dabei bräuchten andere Angestellte wie Sportvorstand Hasan Salihamidzic Leitsätze, an denen sie ihre Aussagen ausrichten können – und nicht nur kurze Durchhalteparolen, die auf Kahns Twitter-Account veröffentlicht werden. “Wir müssen alles reinhauen, um das scheinbar Unmögliche noch möglich zu machen. Dazu braucht es die totale Überzeugung und den Glauben daran”, schrieb er und appellierte mit Zweckoptimismus: “Mit der Unterstützung der Fans in der Arena ist alles machbar. Das habe ich selbst oft genug erlebt.”
In der Führungsetage droht bei einer Saison ohne Titel ein Hauen und Stechen, da der komplette Misserfolg auch dem Wirken der Bosse zugeschrieben wird. Lässt Kahn dann Sportvorstand Salihamidzic oder – als kleineres Opfer – Marco Neppe, den Technischen Direktor, fallen? Stimmt der Aufsichtsrat einem derartigen Schwarze-Peter-Spiel zu? Einer der Fürsprecher von Salihamidzic ist seit jeher Uli Hoeneß, als Ehrenpräsident Mitglied im Aufsichtsrat.
Gelingt trotz der Aussichtslosigkeit doch der Halbfinal-Einzug, wird man in Zukunft wohl ehrfurchtsvoll von jenem 19. April 2023 als dem Urknall der TT-Ära in München sprechen. Dann, und nur dann dürfte auch die Meisterschaft ein Selbstläufer sein. Die wankelmütigen Bayern haben aktuell in der Bundesliga zwei Punkte Vorsprung gegenüber dem BVB. Dünnes Eis, das brüchig werden könnte, wenn es gegen City schiefgeht und ein Negativ-Sog entstehen könnte.